Bibelhandschrift, Erfurt 3 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol. 1213)

Die Hebräische Bibel „Erfurt 3“ ist mit ihrer Entstehungszeit um 1100, zumindest aber noch ins 12. Jahrhundert, die älteste mittelalterliche hebräische Handschrift aus dem gesamten Erfurter Konvolut. Nicht vollständig überliefert, gibt sie bis heute das ein oder andere Rätsel über ihre Entstehung und Geschichte auf.

Ausgewählte Seiten der Handschrift

Blatt 2b

Mehrere Pergamentseiten sind bereits vergilbt und an den Rändern brüchig. Manche Blätter sind gewellt und weisen Falten oder auch Abschabungen auf. Abnutzungsspuren finden sich beim Kodex am Buchrücken und häufig auf den Innenseiten. Besonders die äußeren Pergamentseiten am Anfang und Ende der Handschrift sind stärker beschädigt.

Blatt 4a

An vielen Stellen ist die Tinte bereits mehr oder minder stark verblichen und abgestumpft. Besonders die masoretischen Zeichen sind nicht immer gut auszumachen. Auf anderen Blättern wiederum ist die Tinte noch äußerst gut erhalten.

Blatt 5a

Bei der hebräischen Handschrift „Erfurt 3“ handelt es sich um eine mittelalterliche Hebräische Bibel mit Masora. Der Kodex ist fast vollständig erhalten und – mit wenigen Abweichungen – nach jüdischem Kanon geordnet. Die Handschrift stammt aus dem aschkenasischen Raum und ist wahrscheinlich die älteste der Erfurter Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Nach Kriegsende 1945 befand sich die Bibel „Erfurt 3“ eine Zeit lang in Marburg und kam später wieder nach Berlin zurück.

Blatt 7a

Wie in vielen hebräischen Handschriften, die in christliche Hände gelangt sind, weist auch der Kodex „Erfurt 3“ nachträgliche Kapitelunterteilungen mit lateinischen Zahlen auf (Gen bis Cap./C. XXVII). Diese sind mit einer anderen Tinte und Schrift, mal rechts, mal links der Spalten zu finden. Je nachdem, wo sich Platz fand. D.h. der Leser und Schreiber nahm Rücksicht auf den ursprünglichen Text.

Blatt 33a

Ein hebräischer Eintrag eines Lesers der Bibel ist u. a. auf Blatt 33a beim Übergang von Genesis zu Exodus zu sehen.

Blatt 42a und 147b

Beispiele für eine zweispaltige Anordnung sind in der Regel besondere Textstellen wie Exodus 15:1-18 (Meereslied), Deuteronomium 32:1-44 (Moselied) und Richter 5:1-31. (Deboralied). Die Mehrzahl der Psalmen, Hiob und die Sprüche sind ebenfalls in zwei Spalten geschrieben. Einspaltig sind nur die ersten Psalmen und als Ausnahme am Ende der Sprüche der Lobgesang auf die Frau (Sprüche 31:[10]18-31). Manche Textpassagen sind, ähnlich wie auch in den später aufkommenden Druckversionen, besonders gestaltet (Josua 12:9 zu den Königen). Die Anzahl der Zeilen variiert von zumeist 29 über 30 bis hin zu 31 Zeilen.

Blatt 45a und 285b

Es finden sich hier und dort kleine vignettenartige Zeichnungen. Am Ende einiger Bücher wurde mit großen Buchstaben geschriebenen, um den Abschluss deutlicher zu markieren, wie z. B. von Hiob oder Ezechiel.

Blatt 50b und 130b

Auf den meisten Pergamentseiten finden sich deutlich kleiner geschriebene Kommentare neben dem eigentlichen Bibeltext. Diese werden Masora genannt. Sie sind mit größter Sorgfalt ausgeführt worden.
Die Masora ist nicht auf allen Seiten gleich stark vertreten. Man unterscheidet die kleine Masora (Masora parva) und die große Masora (Masora magna). Erstere ist an den Seitenrändern links und rechts und zwischen den Kolumnen zu finden, zweitere am oberen und unteren Rand. Dafür wurden ebenfalls Hilfslinien gezogen. Teilweise füllen die Kommentare sämtliche Ränder aus. Die mikrografische Masora ist oftmals stark verblasst. Eine Besonderheit ist die auffällig kunstfertige Gestaltung der Kommentartexte in Form von Mustern und geometrischen Figuren. Besonders in der Tora, d.h. in den ersten fünf Büchern der Hebräischen Bibel, finden sich zahlreiche Beispiele dafür.

Blatt 85b

Nachträgliche Ausbesserungen finden sich durchgängig an sehr vielen Stellen im Text und sind vom Original zumeist gut zu unterscheiden. Sie sind in der Regel sauber ausgeführt worden, auch wenn sich immer wieder Gegenbeispiele finden lassen.

Blatt 125a und Blatt 125b

Auf Blatt 125a und 125b ist jeweils sogar eine weitere Spalte vom Korrektor hinzugesetzt worden. Handelt es sich bei Blatt 125a (Zeile 6-29) reinweg um eine unnötige Wiederholung der ersten Halbverse Deuteronomium 32:2-14, wie sie bereits in der mittleren Kolumne stehen, so ist der Zusatz auf Blatt 125b jedoch wichtig. Schließlich hat der zweite Schreiber das Fehlen der Verse Deuteronomium 32:16-17 bemerkt und sie in der linken Spalte ergänzt.

Blatt 127a

Es gibt nur wenige Verzierungen oder figürliche Darstellungen im Kodex "Erfurt 3", ganz im Gegensatz zu den Bibeln "Erfurt 1" und "Erfurt 2". Dies würde ebenfalls für das hohe Alter der Handschrift sprechen. Die mehrfarbige Zeichnung um die Abschlussworte am Ende von Deuteronomium bildet hier fast eine Ausnahme.

Blatt 200b

Der Kodex „Erfurt 3“ ist fast durchgehend in aschkenasischer Quadratschrift niedergeschrieben worden. Diese weist insgesamt recht gleichmäßige Züge auf und scheint zumindest derselben Schreiberschule zu entstammen. Spätere Ausbesserungen deuten auf eine andere Handschrift, aber ähnlichen Schreibduktus hin. Bibeltext, Masora und die diakritischen Zeichen sind höchst wahrscheinlich von verschiedenen Schreibern in unterschiedlichen Schreibprozessen aufs Pergament gebracht worden.

Blatt 308b

Die Handschrift weist kaum Kustoden auf. Diese dienen in hebräischen Manuskripten vor allem als Lesehilfen und zeigen unten in der Ecke das erste Wort der nächsten Pergamentseite an, um die Pergamentbogen in die richtige Reihenfolge bringen zu können, denn eine Seiten- oder Kapitelzählung kennt die Hebräische Bibel ursprünglich nicht.

Die Bibelhandschrift „Erfurt 3“ ist nicht komplett erhalten, obwohl die Vollständigkeit im Originalzustand vorausgesetzt werden kann. Dies bezeugen u. a. auch Kustoden, welche auf dem folgenden Blatt keinen Anschluss finden. Es fehlen einige Kapitel im Buch Samuel (Samuel II 12:20-24:15; zwischen Blatt 189 und 190). Bei Jeremia sind die letzten und anschließend bei Ezechiel die ersten Kapitel verloren (Jeremia 44:26-Ezechiel 8:3; Blatt 258 weist noch einen Kustos auf). Zudem ist das Buch Jesaja nicht vollständig überliefert (Jesaja 7:24-34:1; zwischen Blatt 288 mit Kustos und Blatt 289). Besonders gut kann man die Fehlstellen am Ende von Samuel II und Anfang Könige I nachvollziehen. Zischen Blatt 189b und 190a erfolgt ein plötzlicher Tintenwechsel von blasser zu dunkler Schrift.

Es wäre sicherlich lohnenswert, die Geschichte der Bindungen der Handschrift nachzuvollziehen. Dann würde auch offensichtlich, wann die fehlenden Pergamentseiten abhanden gekommen sein könnten. Der heutige Einband des Kodex hat z. B. große Ähnlichkeit mit demjenigen der Bibelhandschrift „Erfurt 1“, Bd. 2, der 1560 oder 1590 gefertigt wurde. Dennoch bleiben damit viele Fragen weiterhin unbeantwortet.

Blatt 309a

In der Regel liegen sich jeweils zwei Haar- bzw. Fleischseiten gegenüber. Die zumeist etwas dunklere und porenreiche Haarseite lässt sich optisch gut von der helleren Fleischseite unterscheiden, was im Übrigen ebenfalls einen älteren Ursprung der Handschrift vermuten lässt.

Der gebundene Kodex folgt im Wesentlichen dem jüdischen Kanon der insgesamt 24 Bücher der Hebräischen Bibel. Eine wichtige Abweichung ist die umgekehrte Anordnung der sog. „hinteren“ Propheten – Jesaja steht erst nach Jeremia und Ezechiel. Interessanterweise folgt dem Buch Jesaja auf selbiger Seite Hosea, der erste Prophet des sog. Zwölfprophetenbuches. Somit ist ein zufälliges Vertauschen der Pergamentbogen eigentlich unwahrscheinlich. Die Aufeinanderfolge der Schriftenbücher, vor allem die der fünf Schriftrollen (Megillot), ist identisch mit der BHS (Biblia Hebraica Stuttgartensia).

Die Linierung der Seiten ist gut erkennbar. Mit einem spitzen Werkzeug wurden am Außenrand dünne Hilfspunkte ins Pergament gestochen. Sie dienten zur gleichmäßigen Orientierung der Linien horizontal. Sowohl die waagerechten, als auch die Kolumnenlinien wurden ebenfalls mit einem dünnen Werkzeug ins Pergament gezogen. Die Ausführung ist nicht immer gleichmäßig, folgt aber im Großen und Ganzen der intensiven aschkenasischen Linierung. Entgegen der strengen aschkenasischen Tradition wurde allerdings in sehr vielen Fällen über die Kolumnenränder hinweggeschrieben. Dadurch wird zuweilen die Ästhetik der Seite etwas beeinträchtigt. Dennoch findet sich hier wiederum ein Anzeichen für das hohe Alter des Kodex, der sich noch keinen festen Normierungen unterwirft. Ähnliches trifft auf die Tatsache zu, dass die Schriftzeichen „hängend“ unter die Linien geschrieben wurden. Erst im 13. Jahrhundert folgten nämlich aschkenasische Handschriften dem christlich-lateinischen Usus, wonach die Buchstaben „stehend“ auf die Linie gesetzt wurden.

Die Texte sind zum überwiegenden Teil in drei, manchmal in zwei und selten nur in eine Spalte untergliedert. Die dreispaltigen Seiten weisen zumeist englaufende Kolumnen auf. Der Kolumnenbeginn ist beliebig und zeigt auch hierin noch keine Maimonidischen Einflüsse. Maimonides ist ein wichtiger Gelehrter des jüdischen Rechts und einflussreicher Philosoph, der mit seinen Regeln und Vorgaben spätere Handschriften beeinflusste.

Blatt 393a

Prinzipiell ist im gesamten Kodex eine unterschiedliche Tintenstärke, oft von Buch zu Buch verschieden, zu beobachten. Ab und zu finden sich jedoch auch abrupte Tintenwechsel. Zum Teil druckt sich die Tinte durch das Pergament auf die andere Seite hindurch.

Blatt 404b

An einigen Stellen sind selbst größere Passagen erneuert worden.

Blatt 423a

An einigen Stellen lassen sich Brand-, Ruß- und Wasserspuren vermuten. Dies wäre durch genauere Untersuchungen zu überprüfen. Erstaunlich wenige Seiten zeigen zumeist kleinere Löcher auf. Defektive Randstellen durch minder qualitätsvolles Pergament sind ebenfalls zu beobachten.

Blatt 459a

Schon die ersten Wissenschaftler (Kennicott, Lagarde) und auch nachfolgende datierten den Kodex „Erfurt 3“ um 1100, zumindest aber noch ins 12. Jahrhundert. Begründet wurde dieses hohe Alter zumeist mit der Art der Schrift und Schreibung sowie mit der Gestaltung der Masora. Auch die enge Kolumnensetzung, die stark ausgeblichene Tinte an vielen Stellen und die Schmucklosigkeit sind ein Indiz dafür. Die Gliederung des Kodex, die Zeilenanzahl der Lieder und die Kennzeichnungsweise orientieren sich noch nicht an der sogenannten „Liste des Maimonides“ (1135-1204), jenes Gelehrten des jüdischen Rechts und einflussreichen Philosophen, der mit seinen Regeln und Vorgaben spätere Handschriften normierte.

Auf der vorletzten Pergamentseite unten nennt sich in kursiver Handschrift der Eigentümer der Bibel selbst: Dies Buch gehört mir Rabbi Nachman ben Rabbi Efraim. Ein Kolophon, das uns den Schreiber und weitere Details zur Datierung, zum Herstellungsort usw. eröffnen würde, ist leider nicht erhalten. Der Kodex „Erfurt 3“ ist somit die älteste mittelalterliche hebräische Handschrift aus dem gesamten Erfurter Konvolut.

Blatt 461a

Weitere Zusätze in kursiver unregelmäßiger Handschrift finden sich ganz am Ende der Bibelhandschrift in Form von Gedichten und Liedern. Auf der letzten Seite wurde zudem mit höchster Wahrscheinlichkeit ebenfalls nachträglich ein kleiner Drache gezeichnet.

Deckblatt

Die Pergamentseiten sind im heutigen Zustand etwa 44 x 34 cm groß. Im Laufe der Jahrhunderte kann Pergament indes etwas schrumpfen. Zudem werden bei Neubindungen nicht selten die Seiten abermals zurechtgeschnitten, sodass die Größe der Originalbindung einer Handschrift nicht immer sicher rekonstruiert werden kann.

Die Gelehrten Bellermann und Jaraczewsky gaben bei ihrer Beschreibung der Handschrift insgesamt 457 Blatt (Folia) an. Die meisten Wissenschaftler hingegen, darunter auch der berühmte Handschriftenexperte Moritz Steinschneider, zählten 460 Blatt. Tatsächlich stimmt dies mit der offensichtlichen handschriftlichen Paginierung, welche von 1-460 durchgehend immer oben links auf der Vorderseite jedes Pergamentblattes zu finden ist, überein.

Nach genauerer Untersuchung des Manuskriptes ließ sich jedoch folgender Hinweis auf der letzten, später hinzugefügten Papierseite des Kodex finden: "Kollationiert:  fol. 1-460; 190 bis. / 18.6.1934 Fo [?] / 18.6.[1934]." Kollationieren bedeutet in der Handschriftenkunde, noch nicht gebundene Bogen oder Blätter vor der Bindung auf korrekte Reihenfolge und Vollständigkeit hin zu kontrollieren. Bei dieser Überprüfung muss wohl aufgefallen sein, dass ein Blatt (Folium) zunächst nicht mitgezählt oder übersehen wurde. Aus diesem Grunde wurde das Blatt zwischen den Blättern "190 und 191" durch die Benennung 190 bis ergänzt. „Bis“ ist der lateinische Ausdruck für „2 mal“. Damit ergibt sich eine Gesamtanzahl von 461 anstatt der bisher angenommenen 460 Blätter.

Text: J. Binaszkiewicz (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini