Schriftauslegung im Mittelalter

Der wohl einflussreichste Religionsphilosoph des jüdischen Mittelalters, Moses Maimonides, unternahm Ende des 12. Jahrhunderts den Versuch, all das, was ein Jude zu glauben hat, in 13 Punkten zusammenzufassen. Eine dieser essentiellen Glaubenslehren betrifft die göttliche Herkunft der Tora. Maimonides legt fest:

Die achte Grundlehre besteht darin, dass die Tora vom Himmel ist. Das bedeutet, wir glauben, dass die Gesamtheit dieser Tora, die sich in unseren Händen befindet, durch Mose übermittelt worden ist und dass sie gänzlich aus dem Munde der Gottheit stammt. [Und weiter heißt es:] Jedes einzelne der Worte von ihr enthält Weisheiten und Wunder für den, den Gott verstehen gelehrt hat, aber das Endmaß ihrer Weisheit wird nie erreicht, sie ist länger als die Erde und weiter als das Meer.

In diesen wenigen Sätzen ist ein grundlegender Wesenszug des jüdischen Denkens angezeigt, nämlich die Annahme, dass die Heilige Schrift göttlich und jegliche Wahrheit in ihr verborgen sei. Tatsächlich sind die biblischen Bücher von der Antike bis in die Neuzeit die zentrale Konstante, durch die juristische Erweiterungen, gesellschaftliche Wandlungen, philosophische Hypothesen, oder auch mystische Spekulationen ihre Legitimation erhalten. Die Bewahrung und Weitergabe der Hebräischen Bibel von einer Generation auf die nächste in ihrer unveränderlichen Form wird insbesondere für das Diasporajudentum zur wichtigsten Aufgabe. In die unterschiedlichsten Kulturräume der Welt zerstreut, markiert allein dieser Text die geistigen Grenzen des jüdischen Volkes und begründet auch über große geografische Distanzen hinweg eine gemeinschaftliche Identität.

PaRDeS - der vierfache Schriftsinn der Bibel

Die Interpretation der Bibel stellt einen wesentlichen Bestandteil der jüdischen Kultur dar. Man kann sagen, dass sie den Kern eines großen Teils der theologischen, rechtlichen, philosophischen, ethischen und mystischen Literatur bildet. Es wurden der biblische Text als Ganzes, einzelne Bücher der Schrift oder ausgesuchte Verse auslegend kommentiert, wobei, neben dem Ingenium des Autors, kulturelle, politische und soziale Aspekte wesentlichen Einfluss auf den Charakter der Interpretation hatten. Die Methoden der Exegese waren dabei so unterschiedlich wie ihre Verfasser. Doch das Ziel der Beschäftigung mit der Bibel war immer dasselbe. Das sei mit Hilfe einer kleinen Geschichte aus dem Babylonischen Talmud und ihrer Interpretation verdeutlicht.

Die Rabbanen lehrten: Vier traten in das Paradies [Pardes] ein, und zwar: Ben Asaj und Ben Soma, Acher und R. Akiba. [...] Ben Asaj schaute und starb. Über ihn spricht die Schrift [Psalm 116:15]: kostbar ist in den Augen des Herrn der Tod seiner Frommen. Ben Soma schaute und kam zu Schaden [er wurde wahnsinnig]. Über ihn spricht der Schriftvers [Sprüche 25:16]: hast du Honig gefunden, so iss, was dir genügt, dass du seiner nicht satt werdest und ihn ausspeiest. [...] Acher haute junge Triebe nieder. [d.h. er verdarb die Jugend] Allein Rabbi Akiba stieg in Frieden hinauf und kam in Frieden herunter.

[bT Chagigah 14b/15b]

Diese enigmatische Parabel bietet viel Raum für Spekulation und hat in ihrer langen Rezeptionsgeschichte zahlreiche Kommentatoren angezogen. Was genau schauten die vier Rabbis in diesem mysteriösen Pardes eigentlich? Und weshalb konnte nur der große jüdische Märtyrer Rabbi Akiba diesen Aufstieg ins Paradies unbeschadet meistern?
Im Mittelalter hat sich eine außerordentlich spannende Interpretation dieser Geschichte etabliert. Jüdische Mystiker haben das Wort PaRDeS – Paradies – als Akronym für die vier Hauptströmungen der Schriftauslegung gelesen:

  • (1) פשט (Peschat, „einfach“) bezeichnet die wörtliche Bedeutung der Bibel,
  • (2) רמז (Remez, „Anspielung“) steht für die allegorische Auslegung,
  • (3) דרש (Derasch, „Auslegung“) ist eine interpretative, erzählerische Methode und
  • (4) סוד (Sod, „Geheimnis“) strebt nach dem esoterischen, mystischen Schriftsinn.

Herausragende jüdische Schriftausleger

Die herausragenden Vertreter eines einfachen Schriftverständnisses waren Raschi und seine berühmte Schule in Nordfrankreich. Die Kommentare des auch in christlichen Kreisen einflussreichen Exegeten zeichnen sich durch ihren prägnanten, eng an den biblischen Text gebundenen Stil, eine klare Sprache und die sparsame Verwendung von homiletischen Elementen des Midrasch aus. Da die jüdischen Gemeinden in Frankreich bis ins 13. Jahrhundert hinein von Wissenschaft und Philosophie weitestgehend unberührt waren, bewegten sich die Bibelkommentare dieser Region meist im festen Rahmen der rabbinischen Tradition. Ganz anders im islamischen Kulturkreis. Dort hatte Sa‘adia Gaon durch seine arabische Übersetzung der Bibel und seine zahlreichen Kommentare Anfang des zehnten Jahrhunderts eine neue Ära der Bibelexegese eingeläutet, indem er die Schriftauslegung für linguistische Studien, philosophische Wissenschaften und polemische Erörterungen öffnete. Der stark philologisch geprägte Ansatz wurde von Gelehrten wie Dunasch ben Labrat oder Menachem b. Jakob ibn Scharuq in Spanien fortgesetzt und durch Exegeten wie z.B. Moses ibn Ezra weitergeführt. Die Renaissance antiker wissenschaftlicher und philosophischer Schriften im islamischen Spanien des 10. und 11. Jahrhunderts zog eine neue Blütezeit der Schriftauslegung nach sich, in der „Klassiker“ wie Abraham ibn Ezra, David Kimchi und Nachmanides durch die Verbindung von rabbinischem, philologischem, philosophischem und nun auch kabbalistischem Material Tradition und Innovation kunstvoll miteinander verbanden und die Bibel dergestalt zu einem Spiegel des kulturellen Aufschwungs in dieser Zeit machten. Für die späteren Jahrhunderte von großer Bedeutung, doch nicht ganz unumstritten, waren die allegorische und die symbolische Bibelauslegung. Für die erstere steht vor allem Moses Maimonides, der mittels der Allegorese Brücken zwischen der vornehmlich aristotelischen Philosophie und dem biblischen Text zu schlagen suchte. Die philosophische Schriftauslegung erfreute sich im 14. und 15. Jahrhundert vieler Anhänger, fand aber auch zahlreiche Gegner in konservativen Kreisen, die den Interpreten Entfremdung von wesentlichen Elementen der jüdischen Tradition vorwarfen. So wie die Philosophen entwickelten auch die Kabbalisten eigene Methoden, um den „inneren“ Gehalt des biblischen Textes freizulegen. Das einflussreichste kabbalistische Werk überhaupt, das „Sefer ha-Sohar" ist ein mystischer Bibelkommentar, in dem neben philosophischem und sprachmystischem Material vor allem die haggadische Überlieferung aufgegriffen und weitergeführt wurde.