Jüdische Liturgie, Tora und Feste

Das liturgische Jahr

Im Judentum spielen religiöse Riten und Gebräuche inner- und außerhalb der Synagoge eine wichtige Rolle als Bewahrer religiösen Bewusstseins und Erhalter jüdischer Gemeinschaft. Der Besuch wöchentlicher Gottesdienste, das gemeinsame Begehen der verschiedenen Feiertage, die Einhaltung  diverser Tora-Gebote, die Weitergabe der hebräischen Sprache, die Berufung auf eine eigene Zeitrechnung – dies alles gab und gibt dem Judentum trotz der weltweiten Verstreuung seiner Mitglieder Einheitlichkeit und Überlebenskraft.

Das liturgische Jahr im Judentum bildet einen eigenen Zyklus, der durch den lunisolaren Kalender festgeschrieben ist. Dieser Kalender orientiert sich, anders als in der gebräuchlichen gregorianischen Zeitrechnung, am Verlauf des Mondes.  Das jüdische Jahr beginnt mit dem Monat Tischri, das ist  im September/Oktober. Es folgen 12 Mondmonate von je 29-30 Tagen. Ein Tag beginnt mit Sonnenuntergang, die neue Woche am Ende des Schabbats, am Samstag. Diese mondorientierte Zeitrechnung differiert mit dem gebräuchlichen Sonnenkalender um ungefähr 11 Tage. Um dennoch zu gewährleisten, dass die Fest- und Feiertage in die richtigen Jahreszeiten fallen, wird nach festen Regeln ungefähr alle drei Jahre ein dreizehnter Monat zwischengeschaltet.

Zentrum und Ausgangspunkt jüdischer Liturgie ist die Verlesung der Tora, der fünf Bücher Mose. Sie ist in 54 Abschnitte, sogenannte Paraschot, eingeteilt. Immer am letzten Tag der Woche, dem Schabbat, wird ein Gottesdienst abgehalten, in dem fortlaufend je ein Wochenabschnitt vorgelesen wird. So ist das feierliche Begehen des Schabbats wichtiger Bestandteil der jüdischen Liturgie.

Der Gottesdienst

Für einen feierlichen und geregelten Ablauf des Gottesdienstes sorgen die von der Gemeinde gewählten Würdenträger. Der Rabbiner ist dabei Ansprechpartner in religiösen Fragen und Seelsorger seiner Gemeindemitglieder. Die Aufgabe des Vorbeters hingegen teilen sich der Kore, der Vorleser, und der Chazan, der Vorsänger oder Kantor. In einigen Gemeinden ist dieses Amt von einer Person besetzt. Der Kore hat die verantwortungsvolle Aufgabe, den wöchentlichen Abschnitt aus der Torarolle vorzutragen. Dafür  ist eine extrem gute Kenntnis des Textes vorausgesetzt, denn die Torarolle wird bis heute ohne Vokale und Satzzeichen notiert. Zugleich muss der Kore ein gutes musikalisches Gedächtnis haben, denn der Heilige Text wird in einem genau festgelegten Singsang und Rhythmus rezitiert. Für bestimmte Abschnitte der Tora bestehen feste, eingängige  Melodien, für deren Darbietung der Chazan zuständig ist. Neben einem sehr guten musikalischen Empfinden und einer angenehmen Singstimme muss der Chazan auch eine gewisse Ausdauer mitbringen, denn die Gottesdienste sind in der Regel lang und der Vortrag wird im Stehen abgehalten. Wichtig ist auch eine durchgängig hohe Konzentration, denn nur bei fehlerfreier Rezitation des Heiligen Textes gilt der Gottesdienst als angemessen begangen.

An hohen Feiertagen kommen außerdem die Cohanim – hebräisch Plural für Priester – zum Einsatz. Dabei meint die Bezeichnung „Priester“ nicht einen Prediger im christlichen Verständnis. Ein Cohen gilt als direkter Nachfahre der Leviten, der biblischen Hohepriester im Heiligen Tempel von Jerusalem. Daraus leitet sich auch sein privilegierter Status in der Synagoge ab. Gemäß dem vierten Buch Mose obliegt es den Cohanim, Gottes Segen über die Kinder Israel zu sagen. Dieser Aaronitische Segen oder auch Priestersegen wird während des Hauptgebetes über die Gemeinde gesprochen, wobei Kore und Cohen gemeinsam beten:

Es segne dich der Ewige und behüte dich; der Ewige lasse dir leuchten sein Anglitz und sei dir gnädig; der Ewige wende sein Anglitz dir zu und gebe dir Frieden!

(Numeri 6:24-26)

Neben den Aufgaben der offiziellen Würdenträger gibt es noch eine Reihe von Ehrenämtern oder auch Mizwot, die von jedem Gemeindemitglied ausgeführt werden können. Mizwot beinhalten meist kleinere Aufgaben im Rahmen des Gottesdienstes, wie beispielsweise das Öffnen und Schließen der Türen des Toraschreins, das Tragen der Torarolle zum Lesepult, das Entrollen und Halten, das Schmücken und Rückführen der Tora nach Gebrauch. Dies ermöglicht es jedem Gläubigen, sich aktiv am Gottesdienst zu beteiligen.

Schabbat

Der wichtigste Gottesdienst im Wochenverlauf findet am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, statt. Der Schabbat beginnt am Freitag bei Abenddämmerung mit einer rituellen Andacht im Kreise der Familie. Zum Hauptgottesdienst am Samstagmorgen versammeln sich die Gläubigen in der Synagoge. Gemeinsam wird das „Schma Jisrael“ – das Bekenntnis zu dem einzigen Gott und zur Einhaltung seiner Gebote – und die Amida – das Achtzehnbittengebet – gebetet. Sie finden sich neben weiteren Gebeten und Segenssprüchen im jüdischen Gebetbuch, dem Siddur.

Der bedeutsamste Teil des Gottesdienstes ist jedoch die Rezitation des neuen Wochenabschnittes. Zu diesem Anlass wird die wertvolle Torarolle aus dem Toraschrein, einem Schrank an der Ostwand der Synagoge, genommen und feierlich zur Bima, dem Lesepult in der Mitte des Hauses getragen. Dort wird sie vom Kore, dem Chazan und einem Rabbiner in Empfang genommen. Jedes Mitglied der Gemeinde kann nun „zur Tora aufgerufen werden“, das heißt, den vorgeschriebenen Lobspruch vor und nach der Lesung rezitieren. Den Kerntext liest jedoch der Kore selbst, wobei er für alle sichtbar mit einem Zeigestab, der Jad (hebr. Hand) die entsprechenden Zeilen in der Torarolle entlangfährt. Der Chazan singt dabei einzelne Gebete, Psalmen und Hymnen. Die Anwesenden folgen dem Vortrag in ihren gedruckten Bibeln. Nach dem Ende der Lesung wird die Rolle wieder feierlich verstaut.

Rosch ha-Schana

Neben dem Schabbat beinhaltet das liturgische Jahr des Judentums eine Vielzahl weiterer Fest- und Feiertage. Der jüdische Festzyklus beginnt im Monat Tischri (September/Oktober) mit Rosch ha-Schana, dem Neujahrsfest. Im Gegensatz zur christlichen Tradition steht der Anfang eines neuen Jahres  im Judentum im Zeichen des Gedenkens und der Sühne. Die zehntägige Bußezeit wird traditionell durch das Schofar, ein Instrument aus dem Horn eines Widders, eingeblasen. Mit dem Verspeisen eines in Honig getauchten Apfels bitten die Gläubigen symbolisch um ein mildes und heilsames Jahr. Auch der Toten wird mit einem Gang zum Friedhof gedacht. Viele Juden legen zu Neujahrsbeginn sogenannte Halbfastentage ein, das heißt, sie nehmen bis zum Mittag nichts zu sich.

Jom Kippur

Die Bußezeit endet, zehn Tage nach Rosch ha-Schana, mit Jom Kippur, dem „Versöhnungstag“. Er gilt als der höchste und heiligste Feiertag im Judentum. An Jom Kippur halten sich strenggläubige Juden an ein striktes Fastengebot und widmen sich ausschließlich dem Gebet. Mancherorts wird an diesem Tag in Gedenken an die eigene Sterblichkeit weiße Kleidung getragen. Der Tag endet mit dem gemeinsamen Glaubensbekenntnis in der Synagoge und einem abschließenden Blasen des Schofar.

Sukkot

Auf die zehn Bußetage folgt im gleichen Monat Sukkot, das neuntägige Laubhüttenfest. Es ist ein Fest der Freude und Lebenskraft, das Erntedank- und Gedenkfeier vereint. Mit der ganzen Familie wird eine Hütte aus Naturmaterialien erbaut, die für eine Woche Wohnstätte sein soll. Damit wird an die Lebensbedingungen der Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten erinnert. Zum Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Gaben Gottes bindet die Familie aus vier Pflanzenarten ein Lulaw, einen Strauch, der neben der Hütte steht und in den folgenden sieben Tagen mit in die Synagoge genommen wird.

Simchat Tora

Sukkot endet mit einem besonderen Fest, Simchat Tora, dem „Tag der Gesetzesfreude“.  Im Gottesdienst wird der letzte Wochenabschnitt der Tora gelesen und die Gesetzesrolle wieder von vorn abgerollt. Ausgelassene Feierlichkeiten begleiten diesen besonderen Tag, die Kinder bekommen Süßigkeiten. In einigen Gemeinden wird die Torarolle tanzend und singend mehrmals rund um das Lesepult getragen.

Chanukka

Etwa in die christliche Weihnachtszeit fällt Chanukka, das „Lichterfest“. Der Grund für diesen Feiertag liegt über 2000 Jahre zurück: mit der Wiedereinweihung des zweiten Jerusalemer Tempels 164 vor unserer Zeitrechnung erkämpfte sich das jüdische Volk Autonomie gegenüber der hellenistischen Vorherrschaft. Der Tempel, das höchste Heiligtum der Juden, war unter dem Syrerkönig Antiochus IV. Epiphanes zur heidnischen Kultstätte geworden. Als die jüdische Rebellenarmee Jerusalem zurückeroberte, entzündete sie im Tempel erneut das ewige Licht als Symbol für Gottes Gegenwart. Der Sage nach brannte dieses Licht acht ganze Tage lang, obwohl das Lampenöl nur für einen Tag gereicht hätte. In Erinnerung an dieses Wunder wird mit jedem Abend des Chanukka-Festes ein weiteres Licht am Chanukka-Leuchter entzündet – bis alle acht Lichter brennen. Chanukka mit seinem traditionellen Essen, den Geschichten, Spielen und Geschenken ist ein Fest der Familie.

TubiSchevat

Ein eher kleiner Feiertag ist TubiSchevat, das Neujahrsfest der Bäume, das im Januar/Februar gefeiert wird. Das Fest geht zurück auf einen Ausspruch der Mischna, einer Sammlung religionsgesetzlicher Überlieferungen. In der jüdischen Welt ist es zur Tradition geworden, diesen Tag im Freien zu verbringen, Bäume zu pflanzen und möglichst viele unterschiedliche Obstsorten zu essen, vorzugsweise von Früchten, die in Israel wachsen.

Purim

Ausgelassen gefeiert wird wieder zu Purim, dem „Fest der Lose“ im jüdischen Monat Adar (Februar/März). Eine biblische Parabel vom Sieg des Glaubens über die Raserei des Judenhasses bildet den Ausgangspunkt für dieses Fest: wie es im Buch Ester geschrieben steht, beabsichtigte der persische Großwesir Haman, alle Juden des Reiches zu töten, und bestimmte via Los das Datum der Ausrottung – den 14. Adar. Königin Ester jedoch rettete mit Klugheit und Standhaftigkeit ihr Volk, Haman endete am Galgen. Alljährlich an Purim lebt die Geschichte um die Errettung der persischen Juden wieder auf. Viel Essen und Wein, fantasievolle Umzüge, Kostümierungen, Theaterspiele und fröhlicher Lärm machen es zu einem der buntesten Feste im jüdischen Jahr.

Pessach

Auch Pessach, das im Monat Nissan (März/April) liegt, hat seinen Ursprung in der biblischen Geschichte. Es wird auch das „Fest der ungesäuerten Brote“ genannt und erinnert an die Befreiung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei. Nachdem Gott zehn Plagen über die Ägypter gesandt hatte, um sein Volk zu erretten, verließen die Hebräer überstürzt ihre Häuser und begaben sich auf die Flucht in die Wüste. Es blieb ihnen nicht einmal Zeit, das Brot für die Reise gären zu lassen. Aus dieser Geschichte entwickelte sich der Brauch, über Pessach Mazzen, Fladenbrote aus Mehl, Wasser und Salz zuzubereiten und statt des Brotes zu essen. Traditionell steht zu Pessach auch ein sehr gründlicher Hausputz an: kein einziger Krümel gesäuerten Brotes darf sich mehr in der Wohnung finden, mit einer Kerze wird rituell jede Ecke des Hauses nach vergessenen Teigwaren durchsucht. Am ersten Abend des Pessach, dem Sederabend, versammelt sich die Familie nach dem Gang in die Synagoge um einen reichhaltig gedeckten Tisch. Es finden sich allerlei symbolträchtige Gerichte darauf, die vor ihrer Verspeisung benannt und gesegnet werden. Die rituelle Rückbesinnung auf die gemeinsame Geschichte soll Zusammenhalt und Gemeinschaft unter den Gläubigen stärken.

Schavuot

Fünfzig Tage nach Pessach, im Monat Siwan (Mai/Juni) wird Schavuot gefeiert. Das „Wochenfest“ hat einen weltlichen wie einen religiösen Ursprung. Als Erntedankfest feiert es das Einholen der Weizenernte in Israel. Gleichzeitig ist es aber auch ein Festtag zu Ehren der Offenbarung der Tora am Berg Sinai. Das 2. Buch Mose beschreibt, wie Mose aus Enttäuschung über den Götzendienst seines Volkes am Goldenen Kalb die erste Tafel mit den Zehn Geboten zerschmetterte. In Sühne beteten die Hebräer fünfzig Tagen lang. Zum Lohn sandte ihnen Gott eine zweite Gesetzestafel. Deren feierliche Verlesung bildet noch heute an Schavuot den Mittelpunkt des Gottesdienstes. Viele Gläubige bleiben zudem die ganze Nacht auf, um gemeinsam zu beten und die Tora zu studieren.

Die Liturgie des Judentums ist stark ritualisiert und von teils Jahrtausende alten Traditionen geprägt. Die jährliche Wiederkehr der Erinnerungsfeste, der sich wiederholende Zyklus der Toralesung, das gemeinsame Gebet im genau gleichen Wortlaut wie vor 2000 Jahren – dies alles schafft einen Rahmen der Beständigkeit, der für das Überleben des Judentums notwendig ist. In keiner anderen Religion lebten und leben die Mitglieder so weit verstreut und unter so unterschiedlichen kulturellen Einflüssen. Die Kenntnis der jüdischen Liturgie verspricht dem gläubigen Juden Gemeinschaft und Sicherheit, unabhängig davon, an welchem Ort dieser Welt der jüdische Gottesdienst praktiziert wird. Auf diesem Phänomen fußt der Zusammenhalt des jüdischen Volkes auch nach 2000 Jahren der Diaspora.

Text: Nora Zender (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini