Mikrografien
Mikrografien bestehen aus winzig kleinen Buchstaben, Wörtern und Sätzen, die oft nur mit einer Lupe lesbar sind. In der jüdischen Tradition sind zwei Versionen von Mikrografien überliefert. Es gibt die weniger bekannte Form in der übereinander angeordnete Schriftlinien von unterschiedlicher Länge eine bestimmte Form ergeben. Dieser Typus ist mit den paganen und christlichen Kaligrammen der Antike vergleichbar und wahrscheinlich auch von dort inspiriert. Ein Zeuge dieser speziellen Darstellungskunst in der jüdischen Tradition ist sicherlich die grafische Darstellung einiger Lieder in der Hebräischen Bibel, die seit der Antike in der Torarolle und im TaNaCh in immer derselben Form weitergegeben wird. Als Beispiel sei das Meerlied – Exodus 15 – genannt, in dem Moses das Wunder von der Rettung des Volkes Israels vor den Truppen des Pharaos besingt. Die Wasser teilten sich, ließen die Verfolgten trockenen Fußes hindurch, während die Ägypter mit Roß und Wagen in die Tiefe gerissen wurden und ertranken. Diese Szenerie manifestiert sich bis heute in der visuellen Form des berühmten Liedes.
Die wichtigere und spezifisch jüdische Form der Mikrografie unterscheidet sich vom weit verbreiteten Kaligramm dadurch, dass der Text das Bild nicht ausfüllt, sondern seine Außenlinien markiert. Vieles spricht dafür, dass diese vor allem in hebräischen Bibeln angewandte Form der Mikrografie mit der Entwicklung des masoretischen Kommentars einherging, vielleicht sogar von dem bedeutendsten Masoreten Moshe Ben-Ascher im 10. Jahrhundert eingeführt wurde. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass die Schreiber beim Kopieren des teilweise doch recht trockenen Kommentars gerne jeden künstlerischen Freiraum nutzten, um der Eintönigkeit ihrer Arbeit entgegenzuwirken. Das Abschreiben einer Bibel war – auch wenn es in gewissen Kreisen nicht gerne gesehen wurde – mit weit weniger Regeln behaftet als das Kopieren einer Torarolle, die weder den masoretischen Kommentar noch irgendwelchen Schmuck enthalten darf. Diese speziell jüdische Buchkunst verbreitete sich in allen Regionen der Diaspora, wobei das kulturelle Umfeld großen Einfluss auf die Motivwahl ausübte. So weist ein jemenitischer TaNaCh mikrografische Ornamente auf, die stark an das islamische Metallkunstwerk dieser Region erinnert, während spanische Schreiber geometrische Muster der andalusischen Architektur aufgriffen.
Bilderverbot versus Mikrografie
In Deutschland und Frankreich erlebte die Mikrografie im 13. Jahrhundert eine Blütezeit – ist aber schon in älteren Bibeln zu finden. Diese mikrografischen Abbildungen stellen im Grunde einen Kompromiss zwischen einem strengen Bilderverbot und einer figürlichen jüdischen Kunst, die sich vor allem im christlichen aschkenasischen Raum entwickelte, dar. Während es den Juden in islamischen Regionen, wo das Bilderverbot in den religiösen Schriften von den Muslimen weitestgehend konsequent durchgesetzt wurde, leicht fiel, auf figürliche Darstellung zu verzichten, verlockte der christliche Bilderreichtum auch jüdische Künstler zur farbenprächtigen Ausschmückung ihrer heiligen Schriften. Es sind wunderbar illuminierte Bibelhandschriften gerade auch aus dem süddeutschen Raum des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert, die sich im Vergleich zu sefardischen Manuskripten – beispielsweise aus dem muslimisch geprägten Spanien – durch einen erstaunlichen Reichtum an Bildern auszeichnen. Allerdings sahen die Illustratoren weitestgehend davon ab, Gesichter darzustellen, um ein naturgetreues Abbild des ganzen Menschen zu umgehen. Dementsprechend sind Bibelhandschriften überliefert, in denen die Gesichter durch eine gemalte Haarpracht bedeckt, durch Tierköpfe ersetzt oder etwa ausgewaschen bzw. abgekratzt wurden. Einige Handschriften zeigen jedoch auch alle Menschen mit normalen Gesichtern.
Diesem entspannten Umgang mit dem jüdischen Bilderverbot steht die strikte Position der rheinländischen Bewegung der Haside Aschkenaz, der Deutschen Frommen, gegenüber, die jegliche figürliche Darstellung – auch die von Pflanzen und Fabelwesen – aus den heiligen Schriften verbannt wissen wollten. So forderten sie mit strengem Blick auf die Masora figurata, wie die Mikrografien in Bibeln auch bezeichnet werden:
Der Schreiber soll den Text der Masora nicht zu Malereien von Vögeln, wilden Tieren oder dergleichen umgestalten, noch irgendein Bild in der Masora anfertigen.
Schmuckelemente in lateinischen und hebräischen Handschriften
Herausgeber:
Hier können Sie sehr gut Parallelen in der motivischen Illuminierung von lateinischen und hebräischen Handschriften nachvollziehen.