Aufbau einer Hebräischen Bibel
Die Tora
Im Hebräischen heißt die Bibel TaNaCh. Diese Bezeichnung ist ein Akronym, das sich aus den Anfangsbuchstaben der Wörter Tora – Weisung, Nevi’im – Propheten und Ketuvim – Schriften zusammensetzt und damit die drei Teile der Hebräischen Bibel anzeigt.
Die erste Schriftensammlung ist die Tora. Sie umfasst ausschließlich die fünf Bücher Mose, auf deren Inhalte sich das jüdische Selbstverständnis gründet. Die Tora erzählt von der Schöpfung der Welt und des Menschen; von dessen Vertreibung aus dem Paradies nach dem Sündenfall; von dem Brudermord Abels durch Kain und der Sintflut, vor der Noah einige Exemplare der Tierwelt retten kann sowie von der erneuten Hybris des Menschen beim Turmbau zu Babel. Es folgen die Erzählungen über die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob, die einen Bund mit Gott schlossen, auf den sich Juden bis heute berufen. Es wird das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten und die legendenhafte Geburt des zukünftigen Retters Mose erzählt. Moses befreit das versklavte Volk Israel aus der Hand des Pharaos und kann durch Wunder die Verfolger abschütteln und das Volk durch die Wüste ins gelobte Land führen. Während der Wüstenwanderung erhält Moses von Gott am Berg Sinai das Gesetz, das in den folgenden Büchern ausgeführt und zum Grundbaustein der jüdischen Religion werden wird.
Die Stellung der Mosesbücher an den Anfang der Bibel ist kein Zufall, da Moses als Retter des Volkes, als Prophet und Gesetzesgeber der Maßstab für alles Folgende ist. Auch der einflussreiche jüdische Religionsphilosoph Maimonides (ca. 1135-1204), der sich übrigens selbst nicht ganz unbescheiden einmal als der „zweite Mose“ bezeichnete, betonte die Ausnahmestellung dieses großen Propheten und verankerte dessen herausragende Bedeutung in seinen 13 Glaubenslehren dementsprechend tief. Dort heißt es:
Die siebte Grundlehre betrifft die Prophetie unseres Lehrers Mose. Sie besagt, dass man glauben soll, er sei der Vater aller Propheten, die vor ihm gewesen waren und die nach ihm aufgetreten sind. Sie alle stehen im Rang unter ihm, und er war der Auserwählte Gottes aus dem ganzen Menschengeschlecht, der […] in seiner Erhebung über die menschliche Stufe hinaus bis zur engelhaften Stufe gelangt ist und in den Rang der Engel einbezogen wurde.
Schriftliche und mündliche Tradition
In der jüdischen Theologie hat sich aus diesem Denken heraus die Unterscheidung von einer schriftlichen und einer mündlichen Tora entwickelt. Die schriftliche Tora umfasst im engeren Sinne ausschließlich die fünf Bücher Mose, während alle anderen Bücher der Bibel und auch die gesamte frühe rabbinische Literatur wie die Mischna und der Talmud zur „mündlichen Tora“ deklariert werden – obwohl auch sie schriftlich niedergeschrieben wurden. Um diese Idee verständlich zu machen, sei eine kleine Anekdote aus dem Babylonischen Talmud vorgetragen, die diesen inneren Widerspruch nicht ohne Selbstironie folgendermaßen darstellt:
Als Moses in die Höhe aufstieg [um die Tora zu empfangen], fand er den Heiligen, gelobt sei er, dasitzen und Kronen an die Buchstaben binden. Da sprach er vor ihm: ‚Herr der Welt, wozu tust Du das? Er erwiderte ihm: ‚Es wird dereinst, nach vielen Generationen, einen Mann geben, namens Akiba ben Josef; er wird einmal über jedes Krönchen und Häkchen Haufen über Haufen von Lehren vortragen‘. Da bat Moses den Heiligen, gelobt sei er: ‚Herr der Welt, zeige ihn mir‘. Er erwiderte: ‚Wende dich um‘. Da ging er und setzte sich in die achte Reihe [der Schüler Akibas]. Er verstand jedoch nicht ein einziges Wort von dem was vorgetragen wurde, so dass ihm ganz schwach zu Mute wurde. Als Rabbi Akiba aber zu einem bestimmten Lehrsatz gelangte, fragten ihn seine Schüler: ‚Rabbi, von wo weißt du dies?‘ Und er antwortete: ‚Dies ist eine Lehre des Moses vom Sinai‘. Als Moses das hörte, beruhigte sich sein Sinn.
Die Antwort des großen Schriftgelehrten Rabbi Akiba aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert ist die im Talmud übliche, wenn es für eine Vorschrift keine direkte Ableitung aus dem geschriebenen Text, d. h. den fünf Büchern Moses, gibt. Es entwickelte sich in der formativen Periode des Judentums – also vom 2.-8. Jahrhundert – die Idee von einer mündlichen Tora, die sich Moses neben der schriftlichen Tora am Berg Sinai aus dem Munde Gottes geoffenbart habe und seitdem von einer Generation auf die nächste, von einem Lehrer auf seine Schüler, mündlich übertragen wird. Auf diese Weise konnten die Rabbiner Neues autoritativ in der Tradition verankern und die ursprüngliche Offenbarung kommentierend an neue historische Umstände anpassen. Es ist hier nicht der Ort, um auf das spannungsreiche Verhältnis von Offenbarung, Tradition und Kommentar im jüdischen Denken näher einzugehen, nur so viel sei bemerkt: Was auch immer die Propheten nach Mose verkündet haben: All dies kann sich nur als Aktualisierung auf das bereits in der Tora Offenbarte beziehen (Deuteronomium 18:18). Deshalb enden die Prophetenbücher auch mit einem programmatischen Hinweis auf den einzigartigen Mose:
Gedenket der Lehre Moscheh's, meines Knechtes, dem ich aufgetragen zu Choreb [steht wahrscheinlich für Sinai] an ganz Jisrael Satzungen und Rechte.
(Maleachi 3:22)
Die Propheten
Damit ist das Stichwort für die Auflösung des zweiten Buchstabens des Akronyms TaNaCH gegeben: das Nun steht für Nevi’im – die Propheten, die sich den Mosesbüchern in der Hebräischen Bibel anschließen. Die jüdische Tradition unterteilt diesen zweiten Teil in vordere und hintere Propheten. Zu den vorderen Propheten gehören die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige. In ihnen wird die Geschichte Israels von der Landnahme Kanaans nach der vierzig Jahre dauernden Wüstenwanderung bis zum Babylonischen Exil im Jahre 597 vor der christlichen Zeitrechnung erzählt. Die Propheten traten in dieser Zeit als Mahner auf, an die Gesetze der Tora erinnernd und auf die Alleinstellung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs pochend.
Mit den hinteren Propheten sind die drei großen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel gemeint, die durch eine Sammlung von zwölf anderen Propheten – die Sie hier aufgelistet sehen – ergänzt werden. Auch diese Propheten, die nach dem Babylonischen Exil auftraten, ermahnen unermüdlich das Volk Israel, den Weg des einen Gottes nicht zu verlassen. Sie künden vom Gericht Gottes und sagen zukünftiges Heil voraus. Die prophetischen Bücher stehen aus jüdischer Sicht zwar nicht auf derselben Stufe wie die Tora, sind aber wichtiger als die Ketuvim, der dritte Teil des TaNaCh.
Die Liturgie
Diese Abstufungen innerhalb der Hebräischen Bibel sind nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sich die Zusammenstellung und Festlegung der Reihenfolge der biblischen Bücher stark an der Liturgie im jüdischen Gottesdienst orientierte. Das liturgische Jahr im Judentum bildet einen eigenen Zyklus, der durch den lunisolaren Kalender festgeschrieben ist. Dieser Kalender orientiert sich, anders als in der gebräuchlichen gregorianischen Zeitrechnung, am Verlauf des Mondes. Das jüdische Jahr beginnt mit dem Monat Tischri, das ist im September/Oktober. Es folgen zwölf Mondmonate von je 29-30 Tagen. Diese mondorientierte Zeitrechnung differiert mit dem gebräuchlichen Sonnenkalender um ungefähr 11 Tage. Um dennoch zu gewährleisten, dass die Fest- und Feiertage in die richtigen Jahreszeiten fallen, wird nach festen Regeln ungefähr alle drei Jahre ein dreizehnter Monat zwischengeschaltet. Zentrum und Ausgangspunkt jüdischer Liturgie ist die Verlesung der Tora, die in 54 Abschnitte, sogenannte Paraschot, eingeteilt ist. Immer am letzten Tag der Woche, dem Schabbat, wird ein Gottesdienst abgehalten, in dem fortlaufend je ein Wochenabschnitt vorgelesen wird. Zu diesen Wochenabschnitten aus der Tora wird am Schabbat und auch an den Feiertagen ein Abschnitt aus den prophetischen Büchern gelesen. Diese Lesungen bezeichnet man als Haftara, d.h. Abschluss, da sie die Ordnung der öffentlichen Toralesung abschließt. Die Propheten sind dementsprechend ein wesentlicher Bestandteil des jüdischen Gottesdienstes und stehen somit gleich hinter den Mosebüchern.
Die Schriften
Einige Bücher der dritten Schriftengruppe, den Ketuvim, haben auch eine liturgische Funktion inne – allerdings zu besonderen Gelegenheiten innerhalb der jüdischen Festzeiten. Die „Ketuvim“ enthalten eine Mischung aus poetischer Literatur, wie die Psalmen, Weisheitsliteratur wie das Buch Hiob, historisches Material wie die zweigeteilte Chronik oder das Buch Esra sowie apokalyptische Prophezeiungen etwa im Buch Daniel, das in der jüdischen Tradition interessanterweise nicht zu den Propheten gezählt wird. Eine besondere Schriftengruppe innerhalb der Ketuvim bilden die fünf sogenannten Megillot – d.h. übersetzt Schriftrollen. Zu diesen zählen das Buch Rut, das Hohelied, Kohelet, die Klagelieder und das Buch Ester. Diese Schriften spielen an den Feiertagen Schavuot, Pessach, Sukkot, dem 9. Av, an dem die Zerstörung der Tempel erinnert wird, und Purim eine besondere Rolle, an denen sie ins Zentrum der feierlichen Lesung treten.
Die Bücher der Ketuvim stammen aus vorexilischer Zeit als auch aus nachexilischer Zeit, d.h. sie sind nicht chronologisch geordnet. Mit „vorexilisch“ ist die Zeit vor dem Jahre 597 vor der christlichen Zeitrechnung, als der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem und das Königreich Juda eroberte und einen Teil der Juden nach Babylon verschleppte, gemeint. Das „Babylonische Exil“, wie diese Zeit genannt wird, endete 539 vor Christus, als der Perserkönig Kyros der Große Babylon eroberte und die Rückkehr der Juden in ihre Heimat erlaubte. Ein verbindender Aspekt der Ketuvim ist sicherlich das darin immer wieder thematisierte Verhältnis des Menschen zu Gott (Psalmen, Hiob). Aber es sind auch messianische und heilgeschichtliche Elemente in diesem Teil des TaNaCh eingeschlossen, wie z.B. im Chronikbuch. In ihm wird die Geschichte von Adam bis zum sogenannten Kyrosedikt, das die Freiheit der verschleppten Juden besiegelte und den Wiederaufbau des zerstörten Tempels unterstützte, wiederholt und sehr verklärt wiedergegeben. Die letzten Worte des Chronikbuches lauten:
Aber im ersten Jahr des Kyros, des Königs in Persien, erweckte der Herr den Geist des Kyros, des Königs in Persien, dass er ließ ausrufen durch sein ganzes Königreich, auch durch Schrift, und sagen: So spricht Kyros, der König in Persien: Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Königreiche der Erde gegeben, und er hat mir befohlen, ihm ein Haus zu bauen zu Jerusalem in Juda. Wer nun unter euch seines Volkes ist, mit dem sei der Herr, sein Gott, und er ziehe hinauf.
Die jüdische Geschichte wird in dieser Chronik in ein messianisches Licht getaucht und endet programmatisch mit dem Wiederaufbau des Tempels. Dazu muss bemerkt werden, dass im jüdischen Verständnis die Erlösung mit der Versammlung der jüdischen Stämme in Jerusalem, der Errichtung eines gerechten Königreichs und eben dem Wiederaufbau des Heiligtums einhergeht. Der Schlussabsatz des TaNaCh bildet für Juden daher einen Ausblick in die künftige Zeit, da der Messias kommt und ein ideales Königreich in Jerusalem begründet.
Der Kanon
Wann und wie genau sich die insgesamt 24 Bücher der Hebräischen Bibel zu diesem festgelegten Kanon gruppierten, liegt aufgrund der schwierigen Quellenlage teilweise noch im Dunkeln. In der Forschung geht man allerdings davon aus, dass dieser Prozess des Auswählens von Texten aus einer sicherlich ursprünglich umfangreicheren Überlieferung sowie die Festlegung der Reihenfolge der Bücher im zweiten nachchristlichen Jahrhundert abgeschlossen waren. Vieles deutet darauf hin, dass erste Schritte zu dieser festen Textgestalt von Esra, dem Schreiber, unternommen wurden. Der Priester Esra kam Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts mit politischer Macht und Geld ausgestattet aus dem Babylonischen Exil nach Jerusalem und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, der geschwächten Kultusgemeinde in Jerusalem eine neue Ordnung zu geben. Dazu gehörte die Einführung der Tora als festgeschriebene Rechtsordnung und die öffentliche Lesung dieses Textes im Tempel und in den Versammlungsräumen der jüdischen Bevölkerung. Esras herausragende historische Leistung war es also, ein für alle Juden geltendes Gesetz zu etablieren und „dabei eine Vorstufe der Tora in bisher nicht gekannter Weise in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu tragen und im Bewusstsein der jüdischen Gemeinde zu verankern. Dies war ein grundlegender Beitrag zur Neuformulierung ihres Selbstverständnisses“ (vergleiche WiBiLex) und der Grund, weshalb Esra der Schreiber in der jüdischen Tradition immer wieder mit Moses verglichen wird.
Mit dem Auftauchen Esras entwickelte sich die Berufsgruppe der Toraschreiber, das waren in erster Linie Schriftgelehrte, deren Aufgabe es war, zunächst die Gesetzesrolle mit den fünf Büchern Mose aber auch die anderen Schriften der späteren Bibel fehlerfrei abzuschreiben und somit für die Nachwelt in ihrer ursprünglichen Form zu bewahren. Dahinter stand die Intention der Priesterkaste und des pharisäischen Judentums, eine einheitliche Textfassung dieser Bücher sicherzustellen und mit ihrer Autorität unterschiedlichen Varianten, die bereits im Umlauf waren, entgegenzuwirken. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie schnell sich ein doch recht umfangreicher Text wie etwa die Tora durch unterschiedliche Schreiberhände verwandeln kann. Der Beruf des Toraschreibers entsprang im Grunde dem starken Bedürfnis des antiken Judentums nach einer autoritativen Textgestalt. Das betraf zunächst den Pentateuch – also die fünf Bücher Mose –, der die erste Schriftensammlung der Hebräischen Bibel mit einer festgelegten textlichen Form darstellt und bereits im Zuge des Tempelkults von den Hohepriestern als absolut heilig behandelt wurde. Alle anderen Schriften der Bibel, seien es die Propheten, die Psalmen oder die Weisheitsbücher sind erst nach und nach bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte hinein in den biblischen Kanon aufgenommen und genau wie der Pentateuch zunächst in Schriftrollenform überliefert worden.