Äsopische Fabeln

Foto: Ein Email-Medaillon des Doppelkopfes aus dem Erfurter Schatz, welche als Motiv die Fabel "Der Fuchs und der Raabe" zeigt. Foto: © Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie

Der Begriff Fabel leitet sich vom lateinischen Wort „fabula“ ab, was im Deutschen so viel heißt wie Rede oder Erzählung. Lange Zeit bevorzugte die Literaturwissenschaft die Theorie, dass der Ursprung der Fabel in Indien oder im Orient zu finden sei und nicht in Griechenland bei den äsopischen Fabeln. Im 19. Jahrhundert ging der jüdische Orientalist Julius Landsberger davon aus, dass die Fabel jüdischen Ursprungs wäre. Als Hauptargument führte er die auffällige Ähnlichkeit zwischen den Namen Äsop und Asaph auf. Seine Annahme stellte sich aber als falsch heraus. Nichtsdestotrotz gehören die hebräischen Fabeln zu den ältesten Zeugnissen dieser literarischen Gattung. Heutzutage sprechen Wissenschaftler von einer Polygenese, das heißt von mehreren Ursprüngen, die unabhängig voneinander stattgefunden haben.

Im Allgemeinen handelt es sich bei Fabeln um lehrhafte Erzählungen, aus deren Handlung der Leser eine moralisch wertvolle Botschaft ableiten kann, oder der Erzähler selbst die abzuleitende Lehre voranstellt (Anamythion) bzw. anhängt (Epimythion). Hauptakteure sind meist Tiere, auf die sowohl positive als auch negative menschliche Eigenschaften projiziert werden. Ihre Abenteuer erleben sie zwar in ihrer natürlichen Umgebung, aber unter idealen Bedingungen, um den Fokus auf die Lehre zu richten.

In Europa hat sich die Tradition der äsopischen Fabeln durchgesetzt. Diese Sammlung von Tierfabeln wird einem Sklaven aus Phrygien in Kleinasien namens Äsop zugeschrieben. Zeugnisse, die seine Autorenschaft beweisen könnten, oder dass er tatsächlich gelebt hat, sind nicht erhalten geblieben. Der Grund dafür lässt sich einfach daraus ableiten, dass Fabeln anfangs nur mündlich tradiert wurden. Im „Phaidon“ erzählt Platon, wie Sokrates vor seinem Tod Fabeln des Äsop in Verse brachte. Davon ausgehend können wir annehmen, dass es bereits etwa 500 v. Chr. schon Erzählsammlungen existierten, die Äsop als Autor angaben. Zu diesen Anthologien gehörten nicht nur Tierfabeln, sondern auch kleine Geschichten, die wir heute als Sagen, Märchen, Legenden und Parabeln bezeichnen würden. Offensichtlich war der Begriff der Fabel in der Antike noch nicht klar definiert.

Die Fabel ist aufgrund ihres moralischen Gehalts ein beliebtes Mittel im religiösen Umfeld. Neben einigen bekannten Beispielen aus der Bibel, wie z.B. die Jotham-Fabel, finden wir im Talmud und Midrasch eine Reihe von herausragenden Fabelerzählern. Dazu zählen Hillel, sein Schüler Jochanan ben Zakkai und Rabbi Meir. Eine der häufigsten Fabelfiguren der talmudischen Tradition ist der Fuchs, was bemerkenswert ist, da dieser oft die Hauptrolle in den europäischen Fabeln spielt.
Während des Mittelalters erfuhren die äsopischen Fabeln große Verbreitung in Europa und übten großen Einfluss auf die jüdische Literatur aus.

Text: Patricia Fromme (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini