Jüdische Geschichte: Neue Beiträge seitens der Populationsgenetik
Zum Vortrag:
Derzeit erlebt unser Verständnis der Vergangenheit einen Quantensprung durch eine Revolution in der Archäologie. Diese Revolution, die sich vor allem seit 2015 abzeichnet, hängt damit zusammen, dass wir imstande sind DNA aus alten Überresten zu extrahieren. Die neuen Daten, die so zur Verfügung kommen, werfen ein oft unerwartetes Licht auf die Dynamik der Geschichte, auf menschliche Ursprünge, auf Migration, und auf unsere gemeinsame menschliche Vergangenheit.
In diesem Vortrag werde ich untersuchen, was dieses neue Verständnis der Geschichte durch die Untersuchung unserer Gene bedeutet, wenn es auf die jüdische Geschichte angewendet wird. Dabei wird eingegangen auf jüdische Migration und Mobilität, Verwandtschaft, Kontakte zwischen den Gruppen und jüdische Demografie, einschließlich Fragen zu Gesundheit und genetischen Krankheiten. Auf diese Weise werden wir versuchen festzustellen, was eine genetische Analyse der Vergangenheit an unser Verständnis der jüdischen Geschichte beiträgt, und was die Geschichte der Juden Europas, als älteste und wichtigste Minderheit dieses Kontinentes, so einzigartig und spezial macht.
Moderation: Karin Sczech, Beauftragte für das UNESCO-Welterbe Erfurt
Zur Person:
Prof. Dr. Leonard V. Rutgers ist Archäologe und Religionshistoriker. An der Universität Utrecht hat er den Lehrstuhl für Spätantike inne. Er studierte Klassische Archäologie an der Freien Universität in Amsterdam und Rom, Judaistik in Wien und Jerusalem und promovierte in Religionswissenschaften an der Duke University in den Vereinigten Staaten.
Rutgers Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Archäologie der jüdischen Diaspora in Europa, die Ursprünge des frühen Christentums und die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen. Er ist vor allem bekannt wegen seiner Forschungen in den jüdischen und frühchristlichen Katakomben Roms. Im Laufe mehrerer großer archäologischer Feldforschungsprojekte vor Ort hat Rutgers ein starkes Interesse an der Anwendung von Forschungstechniken aus den Naturwissenschaften entwickelt, darunter die Anwendung von Radiokohlenstoffuntersuchung, was zu bahnbrechende Resultate geführt hat in Bezug auf die Datierung der jüdischen Katakomben Roms, sowie die Anwendung von Isotopenanalysen, die ein neues Licht auf die Essgewohnheiten der frühen Christen in Rom geworfen haben.
In weiteren Projekten beschäftigt sich Rutgers mit 3D-Bildgebung und Forschung im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften. Er trägt zum PEACE-Portal (Portal of Epigraphy, Archaeology, Conservation and Education on Jewish Funerary Culture) bei und leitet die Entwicklung einer interaktiven Geo-Raum-Plattform zur Modellierung der historischen jüdischen Migration - ein FAIR IT-Projekt in Zusammenarbeit mit dem Digital Humanities Lab der Universität Utrecht.
Derzeit leitet Rutgers das Projekt Genetic Legacies. Diese interdisziplinäre Forschung, die in Zusammenarbeit mit David Reich von der Harvard Medical School und einer großen Gruppe von Forschern aus ganz Europa, Israel, den USA und Kanada durchgeführt wird, untersucht die Geschichte der jüdischen Migration nach Europa aus einer kombinierten genetischen und historischen/archäologischen Perspektive über einen Zeitraum, der vom ersten Jahrhundert bis 1500 reicht. Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass diese Forschung ein revolutionäres neues Licht auf die Geschichte der Wechselbeziehungen in Europa und insbesondere auf das Auf und Ab der wichtigsten Minderheitengruppe in der europäischen Geschichte, nämlich der jüdischen Gemeinschaft, werfen wird.
Wissenschaftliche Publikationen u.a. The Jews in Late Ancient Rome. Evidence of Cultural Interaction in the Roman Diaspora (1995), The Hidden Heritage of Diaspora Judaism (1998) und Making Myths. Jews in Early Christian Identity Formation (2009). Rutgers beschäftigt sich ferner auch mit der Aufwertung der Forschung. Von 2015-2018 war er Kolumnist beim Het Financieele Dagblad (die niederländische Fassung des Financial Times).
Bei seinen populärwissenschaftlichen Büchern sind zu verzeichnen Subterranean Rome: In Search of the Roots of Christianity in the Catacombs of the Eternal City (2000), Israel on the Tiber. Jewish Life in Ancient Rome (2023) und The Classical World in 52 Discoveries (2018). Das letztgenannte Buch, das mit dem Homer-Preis 2019 für das beste populärwissenschaftliche Buch im Bereich der Klassiker ausgezeichnet wurde, ist ein Bestseller.