Torarolle, Erfurt 6 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol.1215)
Ausgewählte Seiten der Handschrift
Als „Sefer Tora“ wird bereits in der Antike die Gesetzesrolle bezeichnet. Sie beinhaltet ausschließlich die fünf Bücher Mose und ist der zentrale Kultgegenstand im synagogalen Gottesdienst. Das Sefer Tora besteht aus etwa 40 zusammengenähten Pergamentbögen, die beidseitig auf mit Griffen und Holzscheiben versehenen Holzstangen aufgerollt sind. Jede Woche am Schabbat, aber auch an den anderen Festtagen wird sie in einem feierlichen Ritual aus dem Toraschrein – einem Schrank an der Ostwand der Synagoge – herausgenommen und zur Bima – dem Lesepult – in der Mitte des Hauses getragen. Dort empfangen sie der Kore – das ist der Vorleser –, der Chazan – der Vorsänger – und der Rabbiner, um den entsprechenden Wochenabschnitt aufzurollen und der Gemeinde in einer Art Sprechgesang vorzutragen.
Zu den „Erfurter Riesen“ zählt zweifellos die Torarolle „Erfurt 6“, die aus 68 Pergament-Blättern besteht und mit einer Höhe von 78 cm ungewöhnlich groß ist. Mit den Stäben, auf die die zusammengenähten Pergamentblätter aufgerollt werden, ist diese Tora 1,20 Meter hoch und wie schon bei den überdimensionalen Bibelhandschriften steht die Frage nach der Verwendung bzw. Verwendbarkeit im Raum. Sie wurde sicherlich zu einem feierlichen Anlass hergestellt. Da käme zum Beispiel die Einweihung der „Neuen Synagoge“ Anfang des 14. Jahrhunderts in Frage. Die Schrift deutet auf ihre Herstellung im aschkenasischen Raum hin, wobei die vielen Sonderzeichen ins Auge fallen.
Eine Besonderheit beim Schreiben der Torarollen, Tefillin und Mezuzot sind die sogenannten „Taggin“ oder „Krönchen“, die der Sofer an den richtigen Stellen hinzuzufügen hat. Die Krönung betrifft rätselhafterweise nur die sieben Buchstaben Ain, Thet, Nun, Zain, Gimmel, Zadeck und das Schin und ist vom Sofer immer an der linken Seite anzufügen. Leider wissen wir nicht, weshalb ausgerechnet diese Buchstaben mit Krönchen geschmückt werden. Vielleicht war ihr Zweck rein dekorativer Natur. In der jüdischen Literatur gibt es allerhand Spekulationen vor allem mystischer Art zu diesem Phänomen, die sich mit so einer profanen Erklärung wie „Dekoration“ nicht zufrieden geben. Nach einer Anekdote aus dem Babylonischen Talmud, wo Moses in die Schule des Rabbi Akiba geht, band Gott selbst diese Krönchen an die Buchstaben und der große Gelehrte Rabbi Akiba aus dem zweiten Jahrhundert leitete daraus Religionslehren ab. Wie dem auch sei, diese und andere Besonderheiten der STaM („Sefer Tora", „Tefillin" und „Mezuzah") sind Teil der Texttradition und müssen vom Sofer, dem Schreiber, treu weitergegeben werden – auch wenn er vielleicht selbst den Sinn dieser Sonderzeichen nicht mehr nachvollziehen kann.
Die Torarolle „Erfurt 6“ weist sehr viele dieser Sonderzeichen auf, die im 13. Jahrhundert eine Blütezeit erlebten. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass diese Handschrift noch vor dem tragischen Pestpogrom im Jahre 1349 von einem professionellen Sofer geschrieben wurde.
Beim Vergleich unterschiedlicher Torarollen fällt das beinahe identische Layout auf. Auch hier gibt es feste Vorgaben, denen der Schreiber zu folgen hat. So sollten sich auf jedem Pergamentbogen mindestens drei, aber nicht mehr als acht Kolumnen befinden. Nur auf der letzten Seite darf eine einzelne Textsäule stehen. Auch die Anzahl der Zeilen pro Blatt, die Leerräume zwischen den einzelnen Büchern und den wöchentlichen Leseabschnitten sind festgelegt und vom Sofer exakt auszuführen. In manchen Fällen gibt es sogar Vorgaben für die Anzahl der Buchstaben pro Zeile.
Die Torarolle „Erfurt 6“ zeigt in ihrer Gliederung einen klaren Einfluss von Moses Maimonides. Der wohl einflussreichste Religionsphilosoph und Gesetzesgelehrte des jüdischen Mittelalters unternahm Ende des 12. Jahrhunderts eine Überarbeitung der zahllosen Schreiberregeln. Maimonides wirkte in Spanien und Ägypten, doch seine Autorität hinsichtlich der Ritualgesetze wurde auch im aschkenasischen Raum anerkannt und in das tägliche Leben einbezogen.
Zwei Textpassagen muss der Schreiber ganz besonders hervorheben, nämlich das Schilfmeerlied (Exodus 15:1-18), wo besungen wird, wie Moses die Wasser teilte und das Volk Israel vor den Ägyptern rettete und das Moseslied (Deuteronomium 32:1-43), wo Moses die Macht Gottes besingt. Das Schilfmeerlied muss der Schreiber je nach Tradition in 29, 30 oder 31 Zeilen in ein ziegelsteinartiges Muster schreiben; das Moseslied dagegen je nach Tradition in 67, 69 oder 70 säulenförmigen Zeilen. Auch hier ist also nichts dem Zufall überlassen und allein von der Tradition bestimmt. Ganz ähnliche Vorschriften bezüglich der Reinheit und des Textbildes gibt es auch für die Textröllchen in den Gebetsriemen und Mezuzot. Das Abschreiben einer Hebräischen Bibel für den privaten oder schulischen Gebrauch war dagegen nicht ganz so streng reglementiert.