Torarolle, Erfurt 9 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol.1218)
Ausgewählte Seiten der Handschrift
Die Handschrift „Erfurt 9“ ist eine Tora-Rolle, die nur noch fragmentarisch erhalten ist. Sie besteht aus 35 Pergamentbogen, die miteinander vernäht eine Länge von etwa 69 cm ergeben. Normalerweise würde sie wie alle anderen Torarollen die fünf Bücher Moses beinhalten, doch diese Handschrift beginnt mit dem dritten Buch des Pentateuchs: Leviticus 11:26. In der „Erfurt 9“ fehlt auch der Text von Numeri 26:11-Deuteronomium 2:13. Die drei Blätter, die diese Textpassage umfassten, sind vermutlich bei ihrer Odyssee durch die Bibliotheken verlorengegangen.
Torahandschriften sind an den Nähten ganz besonders empfindlich, da sie durch das Auf- und Zurollen stark beansprucht werden. An den Ecken beginnt die Naht am ehesten zu reißen – wie auf dieser Abbildung zu sehen ist.
Die Schrift der Rolle verweist auf ihre aschkenasische Herkunft. Die vielen Sonderzeichen und das Layout sprechen für ein hohes Alter des Fragments. Interessant ist die Tatsache, dass der Schreiber kein Problem damit hatte, schadhaftes Pergament zu benutzen. Auf der hier gezeigten Seite kann man sehen, dass er um die Löcher herumschrieb. Das ist deshalb erstaunlich, da das Pergament zur Herstellung einer Torarolle strengen Reinheitsregeln unterworfen ist.
Die Gliederung des Textes bezeugt noch keinen Einfluss der Schreiberregeln des Maimonides (12. Jahrhundert). Allerdings weist die Handschrift viele Sonderzeichen auf. Ab dem zweiten Blatt Pergament erscheinen im Text für das פ (Peh) bei manchen Wörtern „kleine Schnecken“ oder „Kringel“ und für das ג (Gimmel) auch ein schneckenförmiges Symbol. Das נ (Nun) und das ע (Ain) werden an manchen Stellen in verschnörkelter Form geschrieben. Diese herausstechenden Buchstaben durchziehen den gesamten Text. Ab dem dritten Blatt Pergament tauchen auch auf einigen hebräischen Buchstaben kleine „Krönchen“ zur Verzierung auf, die sogenannten „Taggin“.
Die Vorstellung von „rein“ und „unrein“ ist die zentrale Ordnungskategorie im jüdischen Denken und eng mit der Idee von „heilig“ und „profan“ verknüpft. Ausschlaggebend für die Vorstellung von „rein“ und „unrein“ war die Heiligkeit des Tempels. Um dieser zu entsprechen, mussten alle Menschen und Dinge, die in Kontakt mit dem Heiligtum standen, im Zustand absoluter Reinheit sein. Die jüdische Literatur der Antike lässt keinen Zweifel: dem Tempelrollenexemplar kam hochheiliger Charakter zu und es war denselben rituellen Regeln wie den hochheiligen Tempelgeräten unterworfen.
Aus diesem Grund war und ist die Reinheit des Materials, aus dem die heiligen Rollen gefertigt sind, von außerordentlicher Bedeutung. So muss das Pergament, auf dem die STaM („Sefer Tora“, „Tefillin“ und „Mezuzot“) geschrieben werden, von den Häuten rituell reiner Tiere stammen. Damit sind Tiere gemeint die nach jüdischen Speisevorschriften zum Verzehr geeignet sind, wie z.B. Rind, Wild oder Schafe, aber im Unterschied zu diesen nicht rituell geschlachtet sein müssen. Darüber hinaus sollte es möglichst keine Schäden aufweisen.
Eine Besonderheit beim Schreiben der Torarollen, Tefillin und Mezuzot sind die sogenannten „Taggin“ oder „Krönchen“, die der Sofer an den richtigen Stellen hinzuzufügen hat. Die Krönung betrifft rätselhafterweise nur die sieben Buchstaben Ain, Thet, Nun, Zain, Gimmel, Zadeck und das Schin und ist vom Sofer immer an der linken Seite anzufügen. Leider wissen wir nicht, weshalb ausgerechnet diese Buchstaben mit Krönchen geschmückt werden. Vielleicht war ihr Zweck rein dekorativer Natur. In der jüdischen Literatur gibt es allerhand Spekulationen vor allem mystischer Art zu diesem Phänomen, die sich mit so einer profanen Erklärung wie „Dekoration“ nicht zufrieden geben. Nach einer Passage aus dem Babylonischen Talmud, wo Moses in die Schule des Rabbi Akiba geht, band Gott selbst diese Krönchen an die Buchstaben und der große Gelehrte Rabbi Akiba aus dem zweiten Jahrhundert leitete daraus Religionslehren ab. Diese und andere Besonderheiten der STaM sind Teil der Texttradition und müssen vom Sofer treu weitergegeben werden – auch wenn er vielleicht selbst den Sinn dieser Sonderzeichen nicht mehr nachvollziehen kann.
Text: Sarah Behrnd (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini