Raschi-Kommentar, Erfurt 14 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol. 1222)
Ausgewählte Seiten der Handschrift
Die Sammelhandschrift besteht aus 107 Pergamentblättern und misst 32 x 23 cm, was in etwa dem Quart entspricht. Der Kodex setzt sich aus drei Manuskripten mit Kommentaren des Rabbi Schlomo ben Jizchak (Akronym: Raschi רש"י) zum Pentateuch, den fünf Megillot und zu Texten aus den Prophetenbüchern – den Haftarot – zusammen. Der bzw. die Schreiber oder Besitzer sind leider nicht bekannt. Raschi (1040 – 1105) war der wohl einflussreichste jüdische Bibel- und Talmudexeget des Mittelalters. Er stammte aus dem französischen Troyes, wo er sein über die Grenzen hinaus berühmtes Lehrhaus gründete. Vorher studierte er bei großen Lehrern in Mainz und Worms. Seine Kommentare zu Talmud und Bibel gelten bis heute als Meilensteine der jüdischen Kommentarliteratur. Die ersten Seiten der Handschrift sind stark abgenutzt.
Dagegen ist die am Seitenrand hinzugefügte lateinische Kapitelzählung wohl eher zu einem späteren Zeitpunkt in einer Bibliothek von einem christlichen Leser hinzugefügt worden, der sich auf diese Weise Orientierung in der Handschrift verschaffen wollte.
Die erste Handschrift in dem Kodex, die in einer aschkenasischen Schrift geschrieben ist, umfasst die Blätter 1-25. Sie beinhaltet einen unvollständigen Raschi-Kommentar zum Buch Genesis 1:1-25:22. In der jüdischen Tradition gibt es ursprünglich keine Kapiteleinteilung. Stattdessen ist die Tora – das sind die fünf Bücher Mose – in einen einjährigen Lesezyklus unterteilt, der jeder Woche einen ganz bestimmten Textabschnitt zuordnet. Dem lunisolaren Kalender entsprechend ergeben sich 54 Wochenabschnitte, die sogenannten Paraschot (hebr. פרשות, Sg. Parascha פרשה). Nach dieser Tradition, die bis heute im synagogalen Gottesdienst fortgeführt wird, ist auch dieser Abschnitt der Handschrift eingeteilt. Die Anfangsseiten der ersten Parascha Bereschit (Genesis 1:1-6:8) sind aufgrund der Schäden schwer lesbar. Die darauffolgenden Paraschot Noach (Genesis 6:9-11:32), Lech Lecha (Genesis 12:1-17:27), Wajera (Genesis 18:1-22:24) und Chaje Sara (Genesis 23:1-25:18) sind vollständig. Von der Parascha Toledot (Genesis 25:19-28:9) sind nur vier Verse erhalten geblieben (bis Genesis 25:22). An dieser Stelle endet die Handschrift abrupt. Über den Verbleib des restlichen Manuskripts gibt es keine Hinweise.
Das verwendete Pergament in diesem Teil der Sammelhandschrift ist von relativ guter Qualität. An manchen Seiten ist es stark nachgedunkelt und die Tinte hat bereits einen rot-braunen Ton angenommen, was durch einen hohen Eisenanteil in ihrer Rezeptur hervorgerufen wird. Die Handschrift weist fast keine Vorschäden wie Löcher oder zusammengenähte Risse auf, hat im Laufe der Zeit allerdings einige Brand- und Wasserschäden sowie Restaurationsspuren davongetragen.
Die Handschrift weist viele Spuren ihrer Nutzer auf. So gibt es Korrekturen, Überschreibungen nicht mehr lesbarer Passagen oder andere Hinzufügungen zwischen den Zeilen, von einem Leser, der offensichtlich eine andere Lesart zur Verfügung hatte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese hebräischen Glossen noch vor dem Pogromjahr 1349 von jüdischen Rezipienten hinzugefügt worden sind.
Einige Blattinnenränder wurden wie in der Abbildung mit Papier beklebt, um das Pergament an der Nahtstelle zu verstärken, da das Material bei jeder neuen Bindung dort besonders beansprucht wird.
Der Kommentar ist über die ganze Breite der Seite geschrieben. Um geradlinige Zeilen schreiben zu können, stachen die Schreiber in regelmäßigen Abständen kleine Löcher ins Pergament, die man an vielen Stellen deutlich sehen kann, um dann horizontal über das Blatt eine Linie durchzuziehen.
Das Ende eines Abschnitts wird durch die Formel „חסלת (Ende) + Name der Parascha“ angezeigt. Das erste Wort der neuen Parascha wird – wie in der Abbildung – durch größere Buchstaben hervorgehoben.
Vor der Erfindung des Buchdrucks und der Einführung von Seitenzählungen mussten die Schreiber sich anderer Mittel bedienen, um eine Verwechslung der Bögen durch den Buchbinder zu vermeiden. Die sogenannten „Kustoden“ gehören zu diesen Hilfsmitteln. Am Blattende wird meistens das erste Wort – manchmal auch mehrere Wörter – des darauffolgenden Blattes geschrieben. Oft sind diese Wörter mit Ornamenten oder anderen Zeichnungen geschmückt, da die Schreiber - besonders bei für die Verwendung im Ritus bestimmten Texten - wenig Spielraum hatten, ihre Handschriften zu verzieren. In diesem Abschnitt sticht eine Kustode in besonderem Maße hervor. Zu sehen ist die Zeichnung eines springenden Widders oder Ziegenbocks.
Der Schreiber vermeidet es bis auf wenige Ausnahmen (z.B. bei direkten Zitaten aus der Bibel), den Gottesnamen zu schreiben. Stattdessen benutzt er die Abkürzung ( הקב״ה : הקדוש ברוך הוא, deutsch: der Heilige, gesegnet sei er), die mit kleinen Punkten über den Buchstaben gekennzeichnet ist. An manchen Stellen der Handschrift ist der Name „Jizchak“ mit kleinen Haken über den Buchstaben verziert. Wahrscheinlich weniger um den Urvater der Israeliten, Isaak, zu ehren, sondern vielmehr um den Namen des Kommentators, Raschi, zu betonen oder vielleicht, da der Schreiber selbst „Jizchak“ hieß.
Die zweite Handschrift dieser Sammelhandschrift umfasst die Blätter 26-89 und ist in einer kleinen gotischen Schrift geschrieben. Sie beginnt wie die erste Handschrift mit dem Raschi-Kommentar zu Genesis, setzt sich aber bis zum Ende des Pentateuchs (fünf Bücher Moses) fort. Auch dieser Kommentar weist Lücken – von Genesis 1:26-24:60 – auf. Auffällig ist die Layout-Änderung bei dieser Unterbrechung: Der Schreiber hat das zweite Blatt über die ganze Breite und nicht in zwei Kolumnen wie die restlichen Blätter der Handschrift beschriftet. Die Annahme liegt nahe, dass ein späterer Redaktor den Anfang dieses Manuskripts so gekürzt hat, dass die ersten Paraschot, die in der ersten Handschrift dieser Sammelhandschrift enthalten sind, hier nicht aufgenommen wurden.
Die Bücher Exodus, Leviticus und Numeri scheinen zumindest nach der Paraschot-Anzahl vollständig zu sein. Nur im Buch Deuteronomium fehlt die Parascha Wajelech (Deuteronomium 31:1-30). Möglicherweise ist sie in den anderen Paraschot eingebettet und der Schreiber hat es versäumt, den Anfang und das Ende dieser Parascha deutlich zu machen.
Brand- und Wasserschäden haben das Pergament sehr in Mitleidenschaft gezogen, dadurch sind viele Stellen schwer lesbar. Besonders die Blattränder – sowohl die inneren als auch die äußeren – sind oft morsch, so dass einige Nahtstellen mit Papier beklebt werden mussten, um die Bindung zu stärken. An anderen Stellen waren die Schäden so groß, dass große Stücke des Pergaments abgeschnitten werden mussten, so dass fast kein Rand mehr neben dem Text übrig blieb.
Das Pergament ist im Gegensatz zur ersten Handschrift der Sammlung von schlechter Qualität. Vielfach finden sich Löcher und zusammengenähte Risse, um die der Schreiber herum geschrieben hat. Zum Teil gewinnt man den Eindruck, es seien Pergamentfetzen verwendet worden. Der Schreiber hat schwarze Tinte verwendet, die keine Veränderungen aufweist.
Die zweite Handschrift enthält außerdem noch den Raschi-Kommentar zu den fünf Megillot (Hohes Lied – Ruth – Klagelieder – Prediger – Ester), die hier in der Reihenfolge: Prediger – Hohes Lied – Ruth – Klagelieder – Ester abgehandelt werden. Die Bücher der fünf Megillot sind nicht mehr in Paraschot eingeteilt, sondern nach Ordnungen, den sogenannten Sedarim (hebr. סדרים).
Es kommen in der gesamten Handschrift drei Arten der Paginierungen vor. Zwei, die die ganze Handschrift betreffen, und eine separate im dritten Teil. Die erste nummeriert alle vorhandenen Blätter in arabischen Ziffern. Daraus kann geschlossen werden, dass sie vorgenommen wurde, als die drei Manuskripte bereits eine Einheit bildeten. Die zweite Paginierung stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Buchbinder nicht-jüdischer Abstammung, da in diesem Fall nicht die Blätter gezählt wurden, sondern die Lagen (15 an der Zahl) und nicht von rechts nach links, wie es für hebräische Bücher üblich wäre, sondern von links nach rechts, so wie man ein Buch im abendländischen Kulturkreis aufschlagen würde.
Auch diese Handschrift weist hebräische Notizen am Rand auf, die – wie schon bei der ersten Handschrift dieser Sammlung – vermutlich noch vor 1349 hinzugefügt wurden. Die von späterer Hand hinzugefügte lateinische Kapiteleinteilung vom vorherigen Abschnitt wurde einmalig wieder aufgegriffen, aber nicht fortgeführt.
Die Seiten sind in zwei Kolumnen eingeteilt und sehr eng beschriftet. Anders als beim ersten Manuskript enthalten die Blätter dieses Teils ungewöhnlich viele Zeilen unregelmäßiger Anzahl. Die unterschiedliche Beschaffenheit und Form der Blätter ließ bereits beim Entstehungsprozess keine Regelmäßigkeit zu, so war es dem Schreiber vermutlich wichtiger, den ihm zur Verfügung stehenden Platz vollends auszufüllen, als ein einheitliches Erscheinungsbild der Handschrift zu sichern. Auch das scheint ein Indiz für die Vermutung, dass dieses Manuskript allein für den privaten Gebrauch geschrieben wurde.
Das Ende einer Parascha wird weiterhin mit der Formel "חסלת + Name der Parascha“ angezeigt. Aber der Schreiber hebt diese Schlussformel nicht mehr mit größeren Buchstaben hervor. Nur das erste Wort der neuen Parascha ist – wie man unten links auf dieser Abbildung gut sehen kann – wieder groß geschrieben.
Das Pergament ist von viel besserer Qualität als das der zweiten Handschrift dieser Kompilation. Die Beschaffenheit und Form ist gleichmäßig. Die Blätter haben beinahe alle dieselbe Größe und nur wenige Löcher aufzuweisen. Allerdings sind die letzten Blätter durch Brandspuren nachgedunkelt und die Nahtstellen stark beansprucht und brüchig.
Das dritte und damit letzte Manuskript dieser Sammelhandschrift umfasst die Blätter 90-107 und ist wie das zweite Manuskript in einer kleinen gotischen Handschrift geschrieben. In diesem Abschnitt sind die Raschi-Kommentare zu den Haftarot – bestimmten Abschnitten aus den Prophetenbüchern – zusammengefasst, die zu jedem Wochenabschnitt aus der Tora in der Synagoge gelesen werden. Auf den ersten Blick scheinen es nur 52 Haftarot zu sein, da der Schreiber nur so viele Paraschanamen mit größeren Buchstaben hervorhob, aber für diesen Abschnitt gilt möglicherweise auch, dass die „fehlenden“ Teile bei anderen Abschnitten eingebettet sind. Eine eingehende Untersuchung steht noch aus. An besonderen Feiertagen werden während des Gottesdienstes auch andere dazu passende Haftarot gelesen. 23 dieser besonderen Haftarot wurden dieser Handschrift hinzugefügt.
Spätere Nutzer der Handschrift haben viele interessante – manchmal aber auch kuriose – Spuren hinterlassen. So gibt es wieder Einträge von Nicht-Juden, die mit dem Hebräischen vertraut waren. Man findet hebräische Kommentare und Schreibübungen ebenso wie lateinische Glossen.
Text: Patricia Fromme (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini