Machsor, Erfurt 18 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol. 1224)

Ein Machsor dient als Gebetsbuch für die Feiertage. Die "Erfurt 18" enthält Teile der Liturgie für Pessach, das Morgengebet, die Liturgie für Simchat Tora, dem Fest der Torafreuden, und Bußgebete. Die ungewöhnliche Dimension der Handschrift - sie ist 52 x 33 cm groß - scheint ihrer regen Benutzung nicht im Wege gestanden zu haben, wie zahlreiche Randglossen und Unterstreichungen zeigen.

Ausgewählte Seiten der Handschrift

Blatt 1b

Die Handschrift „Erfurt 18“, die wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert stammt, ist eine der prächtigsten Manuskripte der „Erfurter Sammlung" der Staatsbibliothek zu Berlin. Sie ist der zweite Band der ursprünglich zweibändigen Machsor-Ausgabe aus dem Besitz der Erfurter jüdischen Gemeinde. Noch der Forscher Bellermann berichtete von zwei Teilen, von denen der erste Teil 230 Blatt und der zweite 179 Blatt umfasste. Lagarde fand etwa siebzig Jahre später nur noch einen, nämlich den zweiten Band, vor. Über den Verbleib des ersten Bandes ist nichts bekannt.

Mit einer Höhe von 52 cm und einer Breite 33 cm ist das auf Pergament geschriebene Manuskript ungewöhnlich groß und reiht sich in die Reihe der sogenannten „Erfurter Riesen“ ein. Auf der gezeigten Seite ist der Pijjut – so nennt man liturgische Gedichte in der jüdischen Tradition – „Nischmat Kol Chaj“ (Der Atem eines jeden Lebendigen) zu sehen, das direkt nach dem Schilfmeerlied (Exodus 15:1-18) am Schabbat und Jom Tov (an biblisch begründeten Feiertagen wie Rosch Haschanah, Jom Kippur u.a.) rezitiert wird. Das Gedicht besingt die Einzigartigkeit Gottes, der als Quelle des Gebetes dargestellt wird. Weiter unter auf der Seite ist das „Kaddisch“ – eines der wichtigsten Gebete der jüdischen Liturgie notiert.

Blatt 2a

Ursprünglich war der Machsor ein Festtagskalender, dem Gebete zugeordnet waren. Als die synagogale Dichtung im 12. und 13. Jahrhundert immer mehr zu blühen begann, trat der Kalender in den Hintergrund und die Stammgebete und zahlreichen liturgischen Gedichte prägten den Machsor. Der Machsor (wörtlich übersetzt „Wiederholung“ oder „Zyklus“) entwickelte sich so zu einem Gebetbuch für die Feiertage, wogegen der Siddur als Gebetbuch für den Alltag und den gewöhnlichen Schabbat fungiert. Auf dieser Seite ist das Gebet „El mitnase“ für den besonderen Schabbat Schekalim zu sehen, wobei das erste Wort „El“ – „Gott“ – ausgeschmückt über dem Text steht.

Blatt 2b

Die Handschrift ist, wie hier zu sehen ist, vor allem auf den ersten Seiten stark beschädigt. Es finden sich auch im Rest der Handschrift zahlreiche Löcher, Vergilbungen und Flecken, die auf eine starke Abnutzung hindeuten. Viele Gebrauchspuren deuten auf eine fleißige Benutzung des Bandes durch die Gemeinde und vor allem den Vorbeter.

Blatt 24a

Die Größe und der Aufbau dieses prachtvollen Machsor sprechen dafür, dass er für den Chazan – den Vorbeter – der Gemeinde für die feierliche Lesung während des jüdischen Gottesdienstes bestimmt war. Die Grundform des Gebets ist die „Bracha“ – der Segensspruch. In diesem Machsor finden sich allerdings nur wenige Brachot (pl. Bracha), die oft nur abgekürzt notiert sind. Stattdessen stehen die Pijjutim – die religiösen Gedichte – im Vordergrund, die in erster Linie von den Vorbetern gelesen werden.

Blatt 38a

Auf der zu sehenden Seite aus dem Machsor steht ein Gedicht, das gewöhnlich im Zuge des Morgengebets am ersten Tag des Pessachfestes gelesen wird. Das über eine Woche andauernde Pessachfest zählt zu den wichtigsten Feiertagen des Judentums. An ihm werden der Auszug aus Ägypten und die Befreiung des jüdischen Volkes aus der Hand des Pharao erinnert.

Der Pijjut, wie im jüdischen Gottesdienst verwendete Gedichte genannt werden, stammt von Schlomo ha Bavli aus Rom, einem Poeten, der im 11. Jahrhundert wirkte. Er gehört aufgrund seiner Anspielungen auf biblische Liebeslyrik und der versteckten Verweise auf die rabbinische Kommentarliteratur zu den schwierigsten seiner Gattung. Die am Versende stehenden Zeilen sind Zitate aus dem Hohelied oder auch Bemerkungen des Midrasch – i.e. ein Zeugnis der jüdischen Schriftauslegung – zu der entsprechenden Bibelstelle.

Blatt 59a, Blatt 102a und Blatt 134b

Die ersten Wörter der Pijjutim sind oft durch Größe hervorgehoben und – wie auf diesen Seiten – manchmal kunstvoll dekoriert. Insgesamt weist der Machsor nur wenig Buchschmuck auf und passt dergestalt zu den eher zurückhaltend dekorierten Handschriften der „Erfurter Sammlung“ überhaupt.

Blatt 65a

Die Gedichte sind an einigen Stellen mit hebräischen Kommentaren und Ergänzungen versehen. Es gibt außerdem Tintenwechsel, die noch näher untersucht werden müssen.

Blatt 114b

Leider gibt es bislang keinerlei Forschung zu dieser Handschrift. Die Untersuchung der Pijjutim könnte wichtige Hinweise auf den Ritus in der Erfurter Gemeinde geben, da die Anordnung und Anzahl der Gedichte von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich sein können.

Übersetzung des Pijjut von Rabbi Schlomo ha Bavli

Ihn, das Licht des Heils jener Beglückten, dieses Schutzes Gewürdigten, ihn will ich preisen gleich seinen Lieblingen die da sangen den Gesang der Gesänge.
Das Streben des heißesten Verlangens, das Lechzen der schmachtenden Sehnsucht, er hat es reichlich gestillt, er tränke mich mit den Küssen seines Mundes!
Sie, die Ausgezeichneten durch deinen üppigen Segen, sind die Eigentümer tief verborgener Schätze geworden, sie hast du mit deinen köstlichen Spezereien durchwürzt, gut tut der Duft deiner Öle.
Einst deines himmlischen Hauses Genossen, deine Freiheit Beschenkten, jetzt wie im Wirbel von dir umhergetrieben – sie wollen hin zu deinem glanzerfüllten Tempel, o, zieh mich dir nach!
Er, der Erhabenheit und Herablassung vereint, hat mich einst herrlicher als alle Schönen ausgestattet – doch auch wenn mich jetzt der Gram entstellt, schwarz bin und anmutig ich.
Gram hat mich durchglüht, wilder Kampf mich herumgeschleudert, niedergebeugt und schwarz gefärbt – o, tadelt mich nicht, dass ich eine Schwärzliche bin.
Mein Erheber, als er mich aufschwang wie aus dem Brunnen den Eimer, umflocht er mich mit seiner Schönheit Schmuck. Bist du denn noch mein Fels, meine feste Burg? O, melde mir doch!
Leitung, Unterweisung, Richtung, ward dem Hirten eines vernunftbegabten Geschlechts anvertraut: er strafte, zeigte dir die Seelenwunde, und doch ist dir nicht zu wissen getan.
Er, der selbst das Roß zu meiner Rettung lenkte, teilte das Meer, es in Land umwandelnd für meinen festen Tritt, und Raum war für meine Strecke, zu meiner Lust.
Er rief mir warnend zu: Meine Worte sind dein Lebensglück, deiner Wunden Balsam und dein Heil, für diese und für jene Welt, beseligend sind für dich die dir geweihten Lehren. [Die Ausleger interpretierten „die Wangen“ als Orte des Wortes und der Lehre]
Er beglückte uns mit einem gunstgewinnenden Zauber, bei der Rettung aus Ägyptens Kerker, er lud uns auf des Reichtums Fülle, Goldkettlein.
Darob war voll Übermut mein Herz, Schlacke zeigte sich nach ihrer Weise, vergötterte ein grasend Tier [i.e. das goldene Kalb], solange der König [i.e. Moses] an seiner Tafel [im himmlischen Kreise] war.
Schon fasste er den Beschluss der Vernichtung, das böse Unkraut auszurotten; aber er wandte uns im Drangsale sein Erbarmen zu, jenes Gebundenen willen auf Moriahs Berg. [Die Ausleger lasen „Moriah“ statt „Myrrhe“]
Doch verwarf er dem Gewürme gleich, die Gottvergessenen, der schmachwürdige eherne Götze [goldenes Kalb] wurde aufgelöst – er strich den Straffälligen aus dem Lebensbuche hinweg, und ward der Ausbund der Vergebung wieder. [Die Ausleger lasen „Ausbund der Vergebung statt „Zyperntraube“]

Text: Cecilia Biondi (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini