Sammelhandschrift, Erfurt 15 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. quart. 685)
Ausgewählte Seiten der Handschrift
Die Sammelhandschrift „Erfurt 15“ besteht aus 291 Blatt Pergament und misst 22 x 16 cm. Die alte deutsche Quadratschrift weist auf ihre Herstellung im deutschen Raum des 13. Jahrhunderts hin. Der Kodex enthält mehrere gaonäische Schriften halachischen Inhalts, Responsen von Rechtsgelehrten aus dem Rheinland sowie eine Kompilation äsopischer Fabeln.
Das wertvolle Manuskript ist höchstwahrscheinlich eine Kopie von einer ebensolchen halachischen Sammelhandschrift aus dem Rheinland des 11. Jahrhunderts. Dafür spricht u.a. die Aufnahme der Responsen Rabbi Meschulams an Rabbi Simon ben Isaak aus Mainz oder die Aufnahme der Responsen Rabbi Isaak ha-Levis aus Worms und Rabbi Isaak ben Jehudas aus Mainz an deren Schüler Raschi.
Zu den wichtigsten Gaonim, die Eingang in diese Handschrift gefunden haben, zählt Hai ben Scherira (939-1038) – besser bekannt als Hai Gaon. Von diesem berühmten Rechtsgelehrten sind Abhandlungen über Kauf und Verkauf, sein Kommentar zu der Ordnung „Tohorot“ – „Reinheiten" – sowie sein einflussreicher Brief, indem er die Autorschaft und die Entstehung der Mischna und des Talmuds diskutierte, aufgenommen.
Interessant sind auch die 67 äsopischen Fabeln, die in die „Erfurter Sammlung" der Staatsbibliothek zu Berlin quasi herein gerutscht sind. Die Fabel war aufgrund ihres moralischen Gehalts ein beliebtes Mittel im religiösen Umfeld. Neben einigen bekannten Beispielen aus der Hebräischen Bibel, wie z.B. die Jotham-Fabel, finden wir im Talmud und Midrasch eine Reihe von herausragenden Fabelerzählern. Dazu zählen Hillel, sein Schüler Jochanan ben Zakkai und Rabbi Meir. Eine der häufigsten Fabelfiguren der talmudischen Tradition ist der Fuchs, was bemerkenswert ist, da dieser oft die Hauptrolle in den europäischen Fabeln spielt. Während des Mittelalters erfuhren die äsopischen Fabeln große Verbreitung in Europa und übten großen Einfluss auf die jüdische Literatur aus.
Hier sehen Sie eine Seite mit Fabeln des Äsop, die übrigens in einem syrisch-aramäischen Dialekt verfasst sind, und die entsprechende Übersetzung:
Beginnend rechts oben mit dem grünen Abschnitt:
Die in eckigen Klammern [..] notierten Textpassagen am Anfang und Ende der hier abgedruckten Gedichte sind auf der ausgestellten Seite noch nicht bzw. nicht mehr zu sehen, werden der Vollständigkeit halber aber doch mit abgedruckt. Die in runden Klammern geschriebenen Passagen sind des besseren Verständnisses wegen hinzugefügt.
[Ein Hirsch empfand Durst und stieg zu einer Quelle hinab, um Wasser zu trinken. Als er hier jedoch die Dünne seiner Füße im Wasserspiegel erblickte, betrübte er sich sehr. Die Pracht seines Geweihs] erfüllte ihn hingegen mit großer Freude. Plötzlich stürzten von der Höhe eines Hügels Jäger auf ihn los. So weit sich nun das offene Feld erstreckte, floh er und sie erreichten ihn nicht; als er aber ins Dickicht geriet, verwickelte sich sein Geweih in die Bäume desselben und die Jäger erreichten und töteten ihn. Im Sterben sprach nun der Hirsch: „Wehe mir, worüber ich mich grämte, das brachte mir Freude. Was mich aber fröhlich stimmte, richtete mich zu Grunde.“
Dies lehrt den Menschen, dass er nur das lobe, was sich ihm bereits als Helfer bewährt hat.
Der Hund eines Schmiedes schlief, solange sein Herr arbeitete. Sobald aber der Tisch angerichtet wurde, wachte er auf und näherte sich dem Tische. Als sein Herr dieses bemerkte, sprach er: „Oh, du böser Hund! Beim Schall der Hämmer wachst du nicht auf, beim Geräusch der (mahlenden) Zähne aber weicht bald dein Schlaf.“
Dieses ist gegen diejenigen gerichtet, welche das hören, was sie gern haben, aber nicht das vernehmen, was sie nicht haben wollen.
Ein Fuchs, der einen Löwen sah, welcher in einer Höhle gefangen war, stellte sich vor den Eingang derselben und schmähte ihn. Da rief ihm der Löwe zu: „Nicht du, Fuchs, schmähst mich, sondern mein Unglück.“
Dies lehrt, dass die großen Männer, sobald das Unglück bei ihnen einkehrt, von den geringeren mit Schmähungen beworfen werden.
Hunde fanden die Haut eines Löwen und zerrissen sie. Da rief ein Adler, der sie sah, ihnen zu: „Wäre er nur am Leben gewesen, hättet ihr gesehen, wie die Zähne und Nägel (des Löwen) stärker als die euren sind.“
Dies ist gegen solche gerichtet, welche diejenigen verachten, die von Not und Drangsal überfallen werden.
Ein Hirsch wurde krank und von Schmerzen überfallen. Da kamen (andere) Tiere, um ihn zu besuchen und aßen (bei dieser Gelegenheit) alle Kräuter weg, die in seiner Umgebung wuchsen. Als nun der Hirsch von seiner Krankheit wieder genesen war, starb er vor Hunger.
Dies lehrt, dass viele Freunde ein Nachteil für den armen Mann sind.
Ein Jäger sah einen Hund, der seinen Herrn verloren hatte und nun umherirrte. Als jener ihm unaufhörlich Brot zuwarf, rief ihm der Hund zu: „Geh, Mann, hebe dich von hier weg, denn deine Liebe erschreckt (mich).“
Das Gute derer, welche geben ohne dazu verpflichtet zu sein, entspring nicht aus Menschlichkeit, sondern sie spenden nur, um Vorteil zu schöpfen.
Die Hasen hatten einst mit den Adlern Krieg begonnen und luden nun die Füchse ein, ihnen Hilfe zu leisten. Diese erwiderten ihnen jedoch: „Wenn wir nicht wüssten, wer ihr seid und mit wem ihr kämpfet, würden wir euch beistehen.“
Dies lehrt, dass der Mensch nie mit Stärkeren, als er ist, einen Kampf eingehe.
Ein Knabe badete einst in einem Fluss und als er dem Ertrinken nahe war, sah er einen Mann, der des Weges einher ziehend sich ihm näherte, um ihm Hilfe zu leisten. Als jedoch dieser Mann herangekommen war, machte er dem Knaben Vorwürfe (mit den Worten): „Warum steigst du in den Fluss, wenn du nicht schwimmen kannst?“ Da erwiderte ihm der Knabe: „Zuvor hilf mir und dann schilt mich aus.“
Diese Lehre ist gegen Vorwürfe gerichtet, die man zur Unzeit denen macht, welche in Not sind.
Ein Adler und ein Fuchs hatten Freundschaft geschlossen. Eines Tages raubte jedoch der Adler die Jungen des Fuchses und da dieser ihm nichts anhaben konnte, klagte er ihn bei Gott an. Einst traf es sich denn, dass der Adler Menschen erblickte, die Fleisch auf einem Altar opferten. Da raubte er das noch heiße Fleisch und aß es teils selbst und teils brachte er es seinen Jungen, worauf sowohl er als seine Jungen starben.
Dies lehrt, dass derjenige, welcher sich nicht selbst Recht zu verschaffen im Stande ist, seine Angelegenheit Gott überlassen möge, der ihm schon zu seinem Rechte verhelfen wird.
Ein Löwe trat, da ihn die Sonne brannte, in eine Höhle, um darin auszuruhen. Als er hier jedoch eingeschlafen war, hüpfte eine Maus über ihn hinweg, so dass er dadurch erwachte, erschrocken aufsprang und sich nach allen Seiten umblickte. Ein Fuchs, der dies sah, lachte darüber. Da rief aber der Löwe ihm zu: „Nicht aus Furcht (tat ich dies), sondern nur der großen Verachtung wegen, (welche die Maus gegen mich an den Tag legte).“
Dies lehrt, dass große und treffliche Menschen Verachtung dem Tod gleichstellen.
Jäger fingen listiger Weise einen Löwen in einem Netze. Da kam eine Maus heran und zernagte die Schüre des Netzes. Der Löwe rettete sich nun durch die Flucht indem er sprach: „Bei einer Gelegenheit, bei welcher es nicht zu siegen, sondern zu zernagen gilt, lässt sich’s wohl vermuten, dass ich, ein Löwe, durch eine Maus gerettet werde.“
[Dies lehrt, wie zur Zeit der Not und Bedrängnis große Männer von geringem Beistand erhalten und gerettet werden können.]