Masora, Erfurt 10 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol. 1219)

Schlägt man den unscheinbaren Band der „Kleinen Masora“, „Erfurt 10“ auf, blickt man gleichsam in die spätmittelalterliche Schreibstube eines Kopisten der Masora. Da frühe Abschriften der Tora unterschiedlich stark voneinander abwichen, galt es - in der Masora -, die Variationen zu vergleichen und zu werten, ferner die korrekte Vokalisation zu notieren.

Ausgewählte Seiten der Handschrift

Blatt 1a

Obwohl die Handschrift „Erfurt 10“ unter dem Namen „Kleine Masora“ in die Kataloge eingegangen ist, ist dieser Titel nur teilweise korrekt. Denn das Manuskript besteht vielmehr aus einer erweiterten Form der gängigen kleinen Masora und einer angehängten Liste von Wörtern mit dem Buchstaben „Sin“, die eher der großen Masora zugerechnet wird. Abgesehen von dieser Liste sind die masoretischen Kommentare zu den einzelnen Bibelversen umfangreicher als in der kleinen Masora üblich. Der Ursprung dieser Zusätze ist noch nicht im Detail erforscht. Der bedeutende Masora-Forscher Salomon Frensdorff hat die Erfurter Masora untersucht, konnte die Ergebnisse vor seinem Tod im Jahre 1880 allerdings nicht mehr veröffentlichen.

Da nur sehr wenige eigenständige Masora-Ausgaben aus dem Mittelalter erhalten sind, ist die Erfurter Masora eine Besonderheit. Viel häufiger wurde der masoretische Kommentar – so wie auch in den Erfurter Bibeln – in Glossen am Rand von Bibelhandschriften überliefert.

Es ist davon auszugehen, dass Kalonimos Nakdan bar Elieser sowohl Schreiber als auch Besitzer der kleinen Masora war. Sein Name stand sowohl auf dem früheren Pappdeckel des Manuskripts, der bei der Neubindung Ende des 19. Jahrhunderts durch einen festeren Einband ausgetauscht wurde und dabei verloren ging, als auch auf der ersten Seite der Masora selbst. Diese erste Seite ist im Bild zu sehen. Ganz oben rechts steht in der ersten Zeile in schon ausgeblichener Schrift der Name des Schreibers: „Kalonimos Nakdan bar Elieser“, den er höchst wahrscheinlich selbst dorthin schrieb. In der nächsten Zeile beginnt in gleicher Schrift und Tinte die Masora zu Genesis 1.

Der Zusatz „Nakdan“ – also Punktator – zu Kalonimos’ Namen ist quasi seine Berufsbezeichnung. Diese wichtige Bemerkung könnte erklären, zu welchem Zweck diese Masora diente. Höchst wahrscheinlich legte sie Kalonimos der Punktator für sich selbst als eine  Art Notizbuch an, in dem er verschiedene Versionen der Masora miteinander abglich und festhielt. Diese Informationen brauchte er, um Bibelhandschriften mit der richtigen Punktierung und dem entsprechenden masoretischen Kommentar versehen zu können.

Die angehängte Liste, die in der Bibel auftretende Wörter mit dem Buchstaben „Sin“ umfasst, legte allerdings Josef ben Salomo an, und zwar – wie aus einer Notiz hervorgeht – für einen gewissen Gerschom, mit Gruß an dessen Schwager Nathan Chiskijja und deren Frauen.

Blatt 4b

Auf Blatt 1-109 des Manuskripts steht eine in fünf Spalten geschriebene Masora, die nachträglich mit Zusätzen versehen und ergänzt wurde. Diese Masora ist insofern vollständig, als sie alle Bücher der Hebräischen Bibel behandelt, und zwar in der folgenden Reihenfolge: Zuerst den Pentateuch, dann die vorderen Propheten Josua, Richter, Samuel und Könige, als nächstes die hinteren Propheten Jeremia, Ezechiel, Jesaja sowie das Zwölfprophetenbuch. Danach in ungewohnter Reihenfolge die Schriften: Rut, Kohelet, das Hohelied, die Klagelieder und Ester, dann die Psalmen, Hiob, Sprüche, Daniel, Esra und Nehemia sowie die Chronik. 

Blatt 110 und 111 enthalten eine Liste mit biblischen Worten bzw. Formulierungen, die den Buchstaben „Sin“ enthalten – und zwar vollständiger als in der „Halleschen Masora“, die diesen Zusatz auch enthält.

Blatt 30b

Obwohl viel zusätzliches Material um den fünfspaltigen Text der Erfurter Masora ergänzt wurde, kann sie nicht in einen Haupttext und zugehörige Glossen oder Kommentare aufgeteilt werden. Die Hinzufügungen scheinen sich vielmehr in den Text einzugliedern, als einen eigenständigen Block zu bilden. Das Bild zeigt eine Seite aus der Masora zum Buch Josua, die deutlich den Notizbuch-Charakter der „Kleinen Masora" illustriert. Die hellbraune Tinte der fünf Spalten ist an einigen Stellen verwischt, einzelne Wörter oder sogar mehrere Zeilen sind grob ausgestrichen. Zwischen den Zeilen und Spalten – am rechten Blattrand sogar in einer angefügten extra Spalte – gruppieren sich Kommentare und Ergänzungen in dunklerer Tinte um den ursprünglichen Text. Der Schreiber achtete weder auf gerade Zeilen, noch auf bündige Spalten. Oft ist nur schwer zuzuordnen, auf welche Zeile sich eine Ergänzung bezieht. Diese Verfahrensweise bestätigt die Vermutung, dass der Schreiber den Text nur für den eigenen persönlichen Gebrauch und nicht etwa für einen Auftraggeber oder einen größeren Kreis von Benutzern festgehalten hat.

Blatt 41a

Insgesamt umfasst die Handschrift 111 Blatt – das entspricht 222 Seiten, da ein Blatt immer aus einer Vorder- und Rückseite besteht – im Quart-Format. Es ist keine ursprüngliche Paginierung erkennbar. Die blattweise Bleistift-Nummerierung ist neueren Datums. Auch eine Linierung ist nicht vorhanden. Der Schreiber achtete weder auf gerade Zeilen, noch auf bündige Spalten.

Blatt 1-109 sind mit vereinzelten Abweichungen in fünf Spalten beschrieben, während Blatt 110 und 111 als einspaltiger Fließtext geschrieben wurden.

Blatt 59a

In dem Teil der Erfurter Masora, der sich auf die prophetischen Bücher bezieht ist jeweils der Anfangsvers der Haftara – der Prophetenlesung im synagogalen Gottesdienst – gut sichtbar markiert. Dabei ist das hebräische Wort „Haftara“, wie auf der Beispielseite zu sehen ist, immer verziert. Das für die Kennzeichnung der Haftara-Abschnitte verwendete Symbol ist ein Eckiges Häuschen oder Kästchen mit Kugeln an den Ecken und einem spitzen Dach, das ebenfalls mit einer Kugel abschließt. Diese Illustrationen sind die einzigen Schmuckelemente dieses Manuskripts und fallen daher dem Leser direkt ins Auge.

Auf der hier ausgewählten Seite sehen Sie die Masora zum Buch Ezechiel, auf der gleich drei Haftara-Abschnitte beginnen. Die Haftara ist entweder einem bestimmten Tora-Abschnitt zugeordnet (wie hier Ezechiel 37:15-28 zu Genesis 44:18-47:27) oder einem bestimmten Schabbat im Jahr (wie hier Ezechiel 36:16-38 am Schabbat nach Schuschan Purim und Ezechiel 37:1-17 am Schabbat während des Pessach-Festes). Die in der Erfurter Masora markierten Verse entsprechen dem Ritus, der noch heute in aschkenasischen Gemeinden üblich ist.

Blatt 78b

In der fünfspaltigen Masora wurden verschiedene Tinten verwendet. Grundsätzlich kann von einer hellbraunen Grundschicht ausgegangen werden, die später mit Ergänzungen durch eine dunklere Tinte versehen wurde. Die lateinischen Buch- und Kapitelüberschriften sowie Versnummern in dunkler Tinte wurden nachträglich in die Masora geschrieben und stammen möglicherweise von dem Bibelforscher Johann Heinrich Michaelis, der sich mit dieser Masora auseinandergesetzt hat. Im hinteren Teil des Manuskripts finden sich ganze Spalten in dunkler Tinte geschrieben.

Blatt 92b

Auffällig sind außerdem die wenigen Notizen auf der Rückseite des Blattes 92 mit einer roten Tinte, die sich sonst nirgends im Manuskript findet.

Trotz der unterschiedlichen Tinten in dieser Handschrift ist es durchaus möglich, dass die fünfspaltige Masora und ihre Ergänzungen von ein und demselben Schreiber stammen – nämlich von dem bereits erwähnten Kalonimos Nakdan bar Elieser. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass die Masora von einem Familienmitglied des Kalonimos oder einem Schüler weitergeführt und ergänzt wurde, da die Schriften sich sehr ähneln. Der Text auf den letzten vier Seiten des Manuskripts stammt jedoch sicher von einem anderen Schreiber – nämlich Josef ben Salomo.
 

Blatt 95a

Die Masora-Handschrift weist verschiedene Schäden auf, deren Alter und Ursprung nicht immer einwandfrei festzustellen sind. Kleine Nagellöcher, die sich in dreieckiger Formation vom Vorsatzblatt bis mindestens Blatt 15 des Manuskripts mittig an der Außenkante der Seiten befinden, stammen jedoch eindeutig von der Neubindung des Manuskripts, wobei eine Metallschließe mit drei Nägeln am Buchdeckel befestigt wurde, die wohl versehentlich noch einige Millimeter ins Papier eindrangen. 

Weitere Schäden am Manuskript entstanden durch Benutzung und Wasserschäden. Die Blätter 1 und 2 sind bereits dunkel verfärbt, haben ausgefranste Kanten und kleinere Löcher. Die Schrift ist an manchen Stellen verblichen, fleckig und löchrig. Da sich die Tintenflecken mit unterschiedlicher Dichte allerdings durch das gesamte Manuskript ziehen, dürften die meisten von ihnen schon während des Schreibprozesses – bei dem Sauberkeit und Form offenbar nicht allzu wichtig waren – entstanden sein.

Bei dem hier gezeigten Blatt 95 sehen Sie beispielsweise eine Seite, die den masoretischen Kommentar zum Buch Daniel enthält. An der Oberkante fehlt ein Stück der Seite. Dieser Schaden muss entstanden sein, nachdem das Blatt beschrieben wurde, da der Text mit angeschnitten ist, aber noch bevor die Blattnummer mit Bleistift unter die neue Oberkante geschrieben wurde. Die relativ gerade Kante lässt vermuten, dass die fehlende Ecke eher abgeschnitten als abgerissen wurde. Vielleicht ist dieses Blatt einmal unter dem Messer eines  Buchbinders verrutscht.

Blatt 103b und 104a (Bild des Wasserzeichens)

Das Manuskript besteht aus Papier und enthält glücklicherweise ein Wasserzeichen, das für die Datierung dieser Handschrift wichtige Informationen enthält. Das auf dieser Manuskriptseite zu sehende Wasserzeichen besteht – anders als von Lagarde beschrieben – aus zwei mit einer geraden Linie verbundenen Kreisen. Die Linie durchläuft beide Kreise und ragt über den rechten Kreis etwas hinaus.

Aufgrund der deutschen semikursiven Schrift, wurde dieses Manuskript tendenziell eher ins 15. Jahrhundert datiert (Steinschneider, Lagarde). Der Blick in eine moderne Wasserzeichen-Datenbank verrät allerdings, dass dieses Wasserzeichen in Schriften aus der Zeit von 1342 bis 1375 im ostfränkischen Sprachgebiet – vor allem in Würzburg – mehrfach gefunden wurde. Das heißt, die Erfurter Masora ist möglicherweise nur wenige Jahre vor dem Pogromjahr 1349, aber mit großer Wahrscheinlichkeit noch im 14. Jahrhundert geschrieben worden.
 

Deckblatt

Die sogenannte „große Masora“ als eigenständiges Buch  - nach ihren Anfangsworten (אכלה ואכלה) auch „Ochlawaochla“ genannt – galt zwischenzeitlich als gänzlich verloren. Dann veröffentlichte Frensdorff 1864 seine sensationelle Ochlawaochla-Schrift nach einem bis dato unbekannten Manuskript der Pariser Nationalbibliothek. Ein weiteres Manuskript der großen Masora entdeckte Hermann Hupfeld in der Halleschen Universitätsbibliothek. Im Gegensatz zur Erfurter Masora ist die Hallesche in ordentlicher Quadratschrift geschrieben und hatte wohl repräsentativeren Charakter, obgleich auch dieses Manuskript viele Nachträge und Ausbesserungen enthält. Das Hallesche Manuskript ist allerdings umfangreicher als die Pariser Abschrift.

Der Teil der Erfurter Masora, der eindeutig der großen Masora zuzurechnen ist, steht auf den letzten beiden Blättern des Manuskripts. Die Aufzählung von Formen mit dem Buchstaben Sin, der gelesen werden soll wie ein Samech – das ist ein weiterer s-Laut aus dem hebräischen Alphabet –, findet sich ebenfalls im Pariser Manuskript und Halleschen Manuskript. Allerdings weist Samuel Baeck darauf hin, dass die Erfurter Version die vollständigste sei.

Der Brief an den damaligen Bibliothekar am Evangelischen Ministerium in Erfurt, Herrn Diakonus Winkler, aus dem Jahre 1876, in dem Baeck diese Erkenntnis mitteilt, ist im Bild zu sehen. Dieser Brief wurde – quasi als Vorwort – bei der Neubindung des Manuskripts mit eingefasst. Eine Übertragung des Erfurter Sin-Textes mit Angabe der meisten Bibelstellen und Belege ist bei Lagarde zu finden. Abschrift des Briefes: Zu Codex or. fol. 1219

Biebrich am Rhein 15. Nov. 1876

An Hochwürden Herrn Dr. Winkler Diaconus in Erfurt!

Hochgeehrter Herr Diaconus!
Erst heute bin ich dazu gekommen mein am 19. V. [Mai] Ihnen gegebenes Versprechen zu erfüllen und das auf dem Deckel des Manuscripts der Masora parva Gestandene Ihnen zu geben. Auf dem Deckel inwendiger Seite vorn (rechts) stand mit derselben Schrift und derselben Tinte 2 mal der Name des Schreibers der sich auf dem ersten Blatte oben nennt, nämlich: „קלונימוס הנקדן בר אליעזר“ [Kalonimus haNakdan bar Eliezer] und zwar einmal gegen die Mitte des Deckels und einmal gegen unten hin. Es ist also sicher, daß das Manuscript das Authograph des Verfassers selbst ist. –
Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir anzufragen, ob es nicht möglich wäre daß mir der Codex Nr. 3 auf 14 Tage oder 3 Wochen ins Haus verliehen wird. Ich werde nämlich im Laufe dieses Winters s. G. w. [so Gott will] die „kleinen Propheten“ nach Art meiner Genesis Jesaia & Job masoretisch richtig herstellen und wäre es mir da von großer Wichtigkeit besagten Codex eingehend collationieren zu können, was aber wie Sie ja wissen, nur zu Hause wo man die nötigen Hilfsmittel alle zur Hand hat geschehen kann. –
Wenn ich bitten darf, so wollen Sie die Herzlichsten ehrerbietigsten Grüße Herrn Professor Dr. Weisenborn gütigst übermitteln wofür herzlich dankbar ist

Eurer Hochwürden ganz ergebenster

Dr. S. [Samuel] Baeck

Noch eine Notiz zu dem Manuscr. der Mas. parva:
das auf den zwei letzten Blättern stehende Stück ist nicht, wie Jaraczewsky irrthümlich angibt, ein Dankgebet, sondern ein Register aller der hebräischen Wortformen die mit Sin (שׂ) zu schreiben sind. Dieses Stück findet sich auch in der Halle’schen Ochlawaochla-Handschrift (aber nicht so vollständig)

 

 

Text: Lisa Trzaska (Studentin der Universität Potsdam) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini