Bibelhandschrift, Erfurt 1 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol. 1210, 1211)
Ausgewählte Seiten der Handschrift
Das Herzstück der Sammlung ist sicherlich die Bibelhandschrift "Erfurt 1", die aus zwei Bänden mit je 585 und 548 Bögen hochwertigen Pergaments besteht. Zu der Handschrift gehört außerdem ein siebenseitiges Duplikat von Genesis 1:1-6:1. Dieses zusätzliche Material stammt von demselben Schreiber wie die eigentliche Handschrift und wurde vielleicht als Arbeitsprobe hergestellt, um einen Auftraggeber von der handwerklichen Qualität der Schreiberstube zu überzeugen.
Die Bibelhandschrift enthält alle 24 Bücher der Hebräischen Bibel mit aramäischem Targum, der versweise in den Text eingeschoben wurde, sowie die große und kleine Masora. Allerdings sind die Passagen Jesaja 2:21-3:24 und Chronik I 2:3-2:30 nicht mehr enthalten.
Mit einer Höhe von 63 cm und 47 cm Breite ist sie die größte mittelalterliche Hebräische Bibel weltweit und glänzt darüber hinaus mit kunstvollen Mikrografien, die manche Abschnitte des masoretischen Kommentars um eine Bildebene bereichern.
Es ist immer noch ein Rätsel, zu welchem Zweck eine Bibel solchen Formats angefertigt wurde. Für die Nutzung in der Synagoge, das Lesen in der Schule oder der Jeschiva ist diese Bibel schlichtweg zu groß und zu schwer. Eine naheliegende Erklärung wäre, dass der Auftraggeber die wertvolle Bibel für seine private Bibliothek anfertigen ließ und somit einer durchaus gängigen Mode seiner christlichen Umwelt nacheiferte, wo riesige lateinische Bibeln und Stundenbücher ab dem 12. Jahrhundert keine Seltenheit waren.
Band 2, Blatt 173a (Beginn des Buches Micha); Band 2, Blatt 184b (Beginn des Buches Zephania); Band 2, Blatt 202b (Beginn des Buches Maleachi); Band 2, Blatt 443a (Beginn des Buches Ezra)
Eine Besonderheit dieser Bibel sind die sogenannte Mikrografien, die Bild und Text in einem sind. Die Bilder bestehen aus winzig kleinen Buchstaben, Wörtern und Sätzen, die oft nur mit einer Lupe lesbar sind. Bei dem Text in den Bildern der Bibelhandschrift „Erfurt 1“ handelt es sich um den masoretischen Kommentar, der die Konturen der unterschiedlichsten Motive aber auch ihre Struktur bildet. Ein interessanter, weiterführender Aspekt in diesem Zusammenhang sind hier die augenscheinlichen Parallelen von hebräischen Mikrografien und dem Buchschmuck lateinischer Bibeln der deutschen und französischen Gotik zu sein: mit ihrer Vorliebe für Mischwesen, Drachen, Einhörner, Grotesken, Fabelwesen, Ranken und Tiere sowie Anklänge aus der islamischen Buchkunst, die wahrscheinlich durch spanische Bibeln im aschkenasischen Raum Einfluss entfalten konnte.
Auf jeder Seite dieser Bibelhandschrift ist der in drei Kolumnen angeordnete biblische Text zu sehen, der zweizeilig über, dreizeilig unter und wortweise zwischen den Spalten durch den sehr fein geschriebenen Kommentar der Masoreten ergänzt ist. Die meisten Punkte und Striche unter und über diesem Text sind Vokalisationszeichen, die die richtige Aussprache anzeigen. Eine kleinere Anzahl dieser Zeichen sind für den Vorsänger in der Synagoge bestimmt und legt die Akzente, Pausen und die Sprechmelodie des Textes fest.
Um den Anfang einer neuen Leseeinheit zu kennzeichnen, haben die Toraschreiber oft das erste Wort des neuen Abschnittes durch besondere Größe oder kunstvolle Mikrografien, die sich wie hier in Form von Fabelwesen und floralen Fantasiegebilden um das Wort ranken, hervorgehoben. Da es im Hebräischen keine Großschreibung gibt, ist das ganze Wort und nicht wie in lateinischen Schriften, die sicherlich als Vorbilder dienten, nur das Initial herausgestellt.
Leider hat die Bibelhandschrift Erfurt 1, die nur sechs Jahre vor dem tragischen Pestpogrom fertiggestellt wurde, ihre Reise durch die Bibliotheken nicht unbeschadet überstanden. Die beiden Bände der Handschrift wurden während des Zweiten Weltkrieges aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts zu ihrem besonderen Schutz in den Keller des Wirtschaftsministeriums eingelagert. Unglücklicherweise wurde das Gebäude 1945 bombardiert und die Handschrift durch Feuer und Löschwasser stark beschädigt. Im Jahre 2000 begann eine aufwendige Restauration zunächst eines Bandes der Handschrift durch die Staatsbibliothek zu Berlin, die 2007 abgeschlossen wurde.
Auf diesen Seiten sehen Sie außerdem, wie sich die Tinte im Laufe der Jahrhunderte durch das Pergament gefressen hat.
Aufgrund ihres ungewöhnlichen Formats entschieden sich die Hersteller dieser Bibel dazu, eine Seite aus zwei Pergamentbögen zu fertigen, indem sie die beiden Bögen in der Mitte durch einen Falz zusammenfügten. Auf diese Weise wurden die Häute von etwa 1100 Tieren verarbeitet, was enorme Kosten verursachte, die der Auftraggeber offensichtlich nicht scheute. Im Zusammenhang mit dem Schatzfund bestätigt gerade diese sicherlich sehr kostspielige Bibel die These, dass Erfurt bereits vor 1349 als Zentrum des jüdischen Geldhandels gelten kann, in dem einige sehr wohlhabende Familien lebten.
Glücklicherweise enthält diese Handschrift ein Kolophon sowie die Notiz eines Schreibers, die einige Details über die Herstellung und den Auftraggeber preisgeben. So wissen wir, dass der Nakdan – der Punktator – ein gewisser Schimschon nach neumonatiger Arbeit diese Abschrift 1343 für die Erben des Rabbi Schalom beendet hat. Offensichtlich war der eigentliche Auftraggeber in der langen Herstellungsphase verstorben, so dass sich nun dessen Nachkommen über die gigantische Bibel freuen konnten. Ein anderer Schreiber – Baruch ben Rabbi Serach – ist zu Beginn der Chronikbücher erwähnt. Er nutzte die Wörter und Sätze des kleingeschriebenen masoretischen Kommentars, um damit seinen Namen und seine Funktion bei der Erstellung der Handschrift kundzutun: Baruch ben Rabbi Serach der Schreiber.
Um das Ende einer Leseeinheit anzuzeigen, bediente sich der Schreiber dieser Handschrift einer allgemein üblichen Praxis indem er das für den Bibeltext gewählte Layout durchbricht. Der quadratisch angelegte Text geht in rautenförmige Abschnitte über und ermahnt dergestalt den Vorleser an den Abschluss des Kapitels. Den Beginn des nächsten Leseabschnitts signalisierte er durch die Hervorhebung des ersten Wortes.
Der Schreiber dieser Handschrift notierte auf der rechten Seite am unteren Rand links mit dicken Buchstaben das aramäische Wort „Alfa“, das „tausend“ bedeutet, da es mit eben diesem Wort auf der nächsten Seite oben rechts weitergeht. Solche Lesehilfen finden sich in vielen hebräischen Handschriften des Mittelalters. Sie dienten in erster Linie der korrekten Bindung der Pergamentlagen. Nicht selten schmückte der Schreiber solche „Eyecatcher“ noch kunstvoll aus.