Bibelhandschrift, Erfurt 4 (SBB-PK, Orientabt., Ms. or. fol. 1214)
Ausgewählte Seiten der Handschrift
Diese Handschrift besteht aus 282 Blättern Pergament im großen Quartformat. Sie enthält den Pentateuch, d.h. die Bücher Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium, wobei das Buch Genesis nicht vollständig ist. Es beginnt hier mit Genesis 34:5.
Dem Pentateuch schließen sich die fünf Megillot , das heißt übersetzt „Schriftrollen“, in folgender Reihenfolge an: das Hohelied, Rut, Klagelieder, Kohelet und Ester. Diese Schriften spielen an den Feiertagen Schavuot, Pessach, Sukkot, dem 9. Av – an dem die Zerstörung der Tempel erinnert wird – und Purim eine besondere Rolle, an denen sie ins Zentrum der feierlichen Lesung treten.
Den Megillot folgen in der Handschrift „Erfurt 4“ die Haftarot (das sind Abschnitte aus den Prophetenbüchern) – allerdings nicht vollzählig –, die in der jüdischen Liturgie eine große Bedeutung haben.
Dazu sei hier nur kurz bemerkt, dass das liturgische Jahr im Judentum einen eigenen Zyklus bildet, der durch den lunisolaren Kalender festgeschrieben ist. Dieser Kalender orientiert sich anders als in der gebräuchlichen gregorianischen Zeitrechnung am Verlauf des Mondes. Das jüdische Jahr beginnt mit dem Monat Tischri, das ist im September/Oktober. Es folgen zwölf Mondmonate von je 29-30 Tagen. Diese mondorientierte Zeitrechnung differiert mit dem gebräuchlichen Sonnenkalender um ungefähr elf Tage. Um dennoch zu gewährleisten, dass die Fest- und Feiertage in die richtigen Jahreszeiten fallen, wird nach festen Regeln ungefähr alle drei Jahre ein 13. Monat zwischengeschaltet. Zentrum und Ausgangspunkt jüdischer Liturgie ist die Verlesung der Tora, die in 54 – statt 53 – Wochenabschnitte, sogenannten Paraschot, eingeteilt ist. Immer am letzten Tag der Woche, dem Schabbat, wird ein Gottesdienst abgehalten, in dem fortlaufend je ein Wochenabschnitt vorgelesen wird.
Zu diesen Wochenabschnitten aus der Tora liest die jüdische Gemeinde am Schabbat und auch an den Feiertagen einen Abschnitt aus den prophetischen Büchern. Diese Lesungen bezeichnet man als „Haftara“, d.h. übersetzt „Abschluss“, da sie die Ordnung der öffentlichen Toralesung abschließen. Die Propheten sind dementsprechend ein wesentlicher Bestandteil des jüdischen Gottesdienstes und stehen somit gleich hinter den Mosebüchern. Den Haftarot folgt schlussendlich das Buch Hiob, dass allerdings nur als Fragment bis Kapitel 33:33 lesbar ist.
Der schmucklose Pentateuch enthält außerdem den versweise eingefügten Targum Onkelos. Diese zwei Textschichten sind auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden, da das althebräische Schriftsystem, das sich ursprünglich aus dem phönizischen Alphabet ableitete, etwa im fünften vorchristlichen Jahrhundert vom aramäischen Alphabet verdrängt wurde. Das heißt, die hebräischen Texte werden seit dieser Zeit mit aramäischen Buchstaben notiert.
Der Name „assyrische Quadratschrift“, in der bis heute Hebräische Bibeln und Torarollen geschrieben werden, erinnert noch an ihre Ursprünge im babylonischen Exil. „Quadratschrift“ nennt man diese Schrift, da jeder Buchstabe ein ganzes bzw. halbes Quadrat ausfüllt und sich die Linienführung der Zeichen mit hauptsächlich waagerechten und senkrechten Strichen meist am Quadrat orientiert. Auch einigen Passagen der Haftarot ist die aramäische Übersetzung beigefügt.
Wie bei den anderen Erfurter Bibeln findet sich auch in der Handschrift „Erfurt 4“ der Kommentar der Masoreten in sehr feiner Schrift neben, über und unter dem biblischen Text notiert. Der Schreiber der Handschrift ist leider unbekannt. Und auch über den Besitzer gibt es keine gesicherten Angaben. Bellermann konnte noch den Schriftzug eines gewissen Josef ben Jakob oder vielleicht ben Jitzchak erkennen, der vermutlich der Besitzer der Handschrift war. Der Name stand auf dem früheren Buchdeckel des Pentateuchs, der bei einer Bindung noch vor dem Jahre 1877 verlorengegangen ist.
Insgesamt gibt es wenige Glossen und Bemerkungen in der Handschrift. Vereinzelt tauchen hebräische Korrekturen auf, die Lesarten neben dem Text notieren oder den Text selbst mit kräftigerer Tinte überschreiben, um verblasste Wörter und Passagen wieder sichtbar zu machen. Wie in den anderen Handschriften der „Erfurter Sammlung“ auch, sind lateinische Anmerkungen, die der Orientierung im Text dienen, notiert. Diese sind wahrscheinlich nach 1349 von einem christlichen Leser vorgenommen worden.
Der Text ist überwiegend dreispaltig. Nur mit wenigen Ausnahmen wird von dieser Anordnung abgewichen. Eine davon ist das „Schilfmeerlied“ (Exodus 15: 1-18), das der Schreiber hier in gewohnter Weise dargestellt hat. Sehr schön sind an dieser Stelle Sonderzeichen zu sehen: zum Beispiel „Krönchen“ über dem Buchstaben „ש“ (schin) oder eine auffällige Schneckenform des Buchstaben „פ“ (p/f).
Eine weitere interessante Abweichung vom gewohnten Layout befindet sich am Ende des Buches Exodus. Dort gibt es über vier Seiten einen nur einspaltigen Text (Blatt 76b bis Blatt 78a), der mit den letzten Versen zweispaltig wird und der Form nach in einem Kidduschbecher endet. Der Kiddusch – d.h. der Segen – wird aus dem Buch Exodus 20:8: „Gedenke des Schabbat-Tages, ihn zu heiligen“ abgeleitet. Das Bild ist ein schönes Beispiel für die Anwendung eines Kaligramms in der jüdischen Buchkunst. Das Kaligramm ist eine besondere Form der Mikrografie, die in den Erfurter Handschriften das wichtigste Mittel des Buchschmuckes ist.
Sehr gut ist die senkrechte und waagerechte Linierung der Bögen zu sehen, die sich durch die gesamte Handschrift zieht. An den äußeren Seitenrändern sowie an den oberen Rändern kann man noch die Spuren der sogenannten „Pricking-Methode“ erkennen, bei der mehrere Bogen mit einem spitzen Werkzeug in gewissen Abständen durchbohrt werden, um eine gerade Linienmarkierung vorzunehmen.
Die Handschrift „Erfurt 4“ ist vierlagig gebunden. Auf jeder Lage gibt es auf der letzten Seite links unten eine sogenannte „Kustode“ – auch „Blatthüter“ genannt. Dieses Wort ist das jeweils erste Wort auf dem nächsten Bogen. Die Kustode stellt eine Lesehilfe für den Buchbinder dar, um die richtige Reihenfolge bei der Bindung einzuhalten.
Die Nummerierung der Blätter 41 – 45 fehlt (es handelt sich dabei um eine spätere Paginierung, der Text selbst ist lückenlos) und von Blatt 46 – 48 steht die Paginierung über Kopf rechts unten. P. de Lagarde gibt an: „ die Lage (mit den Blättern) 41– 48 war durch den neuen Erfurter Buchbinder auf den Kopf gestellt: mit Genehmigung des Herrn Bibliothekars ist der Fehler hier in Göttingen unter meiner Aufsicht, so gut es ging ohne den ganzen Codex auseinanderzunehmen, beseitigt worden.“
Die Datierung der Handschrift schwankt zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert. Der Erfurter Rabbiner Adolph Jaraczewsky spekulierte über die Entstehung der Handschrift: „mit mittlerer und eleganter Quadrat-Schrift, schwarz und schön, aber vom Anfang verstümmelt. Wegen des gänzlichen Mangels an Verzierungen und der eleganten Formen gehört er (der Pentateuch) wohl unter die Familie der spanischen Manuskripte und ist wohl älter als das 12. Jahrhundert“. Moritz Steinschneider vermutete, dass die Handschrift aus dem 13. Jahrhundert stammt, vermerkt diese Hypothese allerdings mit einem Fragezeichen in seinem Katalog. Paul de Lagarde schreibt dazu: „ nach meinem (nicht maßgebenden) dafürhalten aus dem dreizehnten Jahrhundert.“ Für eine sichere Datierung sind noch Forschungsarbeiten notwendig. Doch spricht die sehr spezielle Ausführung des masoretischen Kommentars für ein hohes Alter.
Das Pergament ist von minderer Qualität. Risse, Unebenheiten, Verletzungen der Tierhaut sind zu erkennen. Die Bögen weisen – wie auf der Abbildung zu sehen ist – zum Teil grobe Nähte auf.
Durch Einschnitte, Risse sowie Wasser- und Russspuren ist die Handschrift stark beschädigt worden, besonders am Anfang und am Ende des Buchs. Außerdem zeigen sich sehr starke Gebrauchsspuren. Dazu gehören z.B. Flecken von Kerzenwachs, kleinere Löcher, Spritzer und Eselsohren. Teilweise sieht man ausgewaschene oder ausgeblichene Stellen auf einigen Blättern, besonders im unteren Teil des Buches.
Text: Sandra Görgen (Studentin der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit Dr. Annett Martini